Katie Mitchell fühlt sich in die Bäume von Tschechows „Kirschgarten“ ein
HAMBURG. Katie Mitchell ist eine originelle Regisseurin – aber mit ihrem „Kirschgarten“ nach Tschechow hinterließ sie mich doch ratlos. Gewiss, ich konnte Elemente des Vierakters erkennen – die Rückkehr der Gutsbesitzerin; den Verkauf des Kirschgartens; das peitschende Geräusch, als ob eine Saite oder ein Seil an übergroßer Spannung zerreißt. Und einige Figuren: Die Gutsbesitzerin, ihren Bruder, ihre Tochter, Lopachin, der Kaufmann, der das Gut ersteigert …
Aber sonst? Bühnenbildner Alex Eales hat das Podium im Großen Haus des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg in sechs Segmente unterteilt, drei im Erdgeschoss, drei im ersten Stock. Unten links ist ein großes Tonstudio aufgebaut mit an die zehn Mikrophonen, an denen sich Schauspieler drängen. Rechts unten spielt ein Streichquartett: zwei Geigen, eine Bratsche, ein Cello – in der Mitte eine Art Fernseh-Studio, in dem vor einer grünen Wand, die die Möglichkeit bietet, Hintergründe nach Wunsch einzuspielen, Schauspieler agieren, deren Bilder nach oben in den ersten Stock projiziert werden – Hintergrund ist nicht selten Natur: Dachse, Bienen, ein Bach, viele Bäume, Natur – Natur auch links und rechts auf kleineren Projektionsflächen, aber statt Videos Fotos.
Den großen Bogen bilden die Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Winter fahren die Gutsbesitzerin, nachdem sie den Kirschgarten verkauft hat, mit ihrem Tross ab. Dann übernehmen die Männer mit den Kettensägen und fangen an, die Kirschbäume abzuholzen. – Aber das ist nicht das Ende:
Große Überraschung – der Film geht zurück. Rückwärts, von hinten nach vorn. Warum? Wird das Baum-Massaker verhindert? Warum sind die Sprechanteile so schlecht zu verstehen? Weil die Tonspur wie die Bildspur zurückgespult wird? Ist es das, was die Bäume verstehen, wenn sie menschliche Sprache vernehmen? Stehen die Bäume für Natur, die Menschen für ihren Feind? Kann, soll man noch mal alles auf (Neu)Anfang drehen, von den Bäumen lernen?
Das Programmheft zitiert Anton Tschechow: „Die Wälder brechen zusammen unter den Hieben der Axt, Milliarden von Bäumen sterben, die Höhlen der Tiere, ihre Nester, alles wird verwüstet, Flüsse versanden und trocknen aus, wunderschöne Landschaften verschwinden für immer … das Klima verschlechtert sich, und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und hässlicher.“ Gegenüber diesen kristallklaren Worten, dieser knallharten Analyse, Tschechows strahlendem Realismus wirkt Mitchells Aufführung wie ein krasser Gegensatz, in den besten Momenten esoterisch, überwiegend aber verschroben …
Und überraschend ungewollt naiv – aber vor allem war am Samstagabend die ganze Premiere, die so befremdet, durchgehend langweilig. Trotz des ungeheuren technischen Aufwands, trotz der über dreißig Mitwirkenden, die sich am Ende den Beifall abholten – mischten sich in den Applaus erheblicher Unmut, laute, unüberhörbare, kräftige Buhs. Wenn Katie Mitchell meint, so der Natur neue Freunde zu schaffen, dürfte sie wohl vor allem eines sein: auf dem Holzweg.
Ulrich Fischer
P.S. Bei dieser Bearbeitung, Überschreibung zeigt sich, was bei so vielen Arbeiten profilierungssüchtiger Regisseur*innen zu konstatieren ist: das Original ist besser – Dramatiker arbeiten fast immer profunder als vom Zeitplan gefesselte Spielleiter. Die Ära des Regietheaters sollte zum Ende kommen, die weit überwiegende Zahl der Regisseure hat sich nicht bewährt. Zurück ins Glied!
Vorstellungen am 28. Nov.; 8. und 26. Dez., 5. und 29. Jan. – Dauer: 1 Std 30 Min.