Dörte Hansens neuer Roman „Zur See“
Dörte Hansen räumt in ihrem neuen Roman „Zur See“ gründlich und radikal mit Klischees auf, die Landratten gewöhnlich einen realistischen Blick auf unsere Insulaner verstellen. Sie fängt allerdings (zu) langsam an, in epischer Breite, nix passiert wirklich – wir Leser*innen müssen Geduld aufbringen, um die Bewohner der überschaubaren Nordseeinsel kennenzulernen, um die es geht.
Im Zentrum steht Hanne Jansen, AnfangMitte sechzig. Sie gehört zur Inselaristokratie, ihre Urgroßväter segelten schon als Kapitäne nach Grönland, auf Waljagd. Ein gigantisches Wal-Skelett erinnert daran, es friedet als Zaun Hannes schmucke, repräsentative Villa ein. Hanne passt gut zu ihrem Mann: „Zwei Sprösslinge aus altem Inseladel, füreinander wie gemacht“. Doch der Schein trügt – und diesen trügerischenSchein zu durchbrechen, das ist das durchgängige Motiv der Autorin, ihr Roman ist eine einzige Dekonstruktion. – Das Warten auf ihren Kapitänsgemahl, wenn der auf See war, hat Hanne ihm entfremdet, sie ist bitter geworden. Als ihr Mann die Seefahrt wegen eines traumatischen Erlebnisses an den Nagel hing, zu Haus Zuflucht suchte, biss sie ihn, unleidlich geworden, weg.
Hannes Mann wird Vogelwart. Vom Einsiedlerleben auf dem menschenverlassenen Inselchen handeln einige der eindrücklichsten Passagen. Spektakuläre Ereignisse wie das Stranden eines Wals, dessen Kadaver die Luft verpestet, fügen der grauen Nordsee Farbe hinzu. Gelungen auch die Porträts der drei Kinder des Paares – keines wird zur See fahren. Hansen erzählt, dass sich das Leben der Insulaner in dieser Generation stark gewandelt hat – es ist nicht mehr so hart, nur wenige ertrinken noch. Obwohl …
„…alle wissen, dass die See nicht gut ist oder böse, sondern beides, eine unberechenbare Mutter, die man liebt und fürchtet. Die ihre Kinder wiegt und füttert und mit ihnen spielt und manchmal untertaucht und frisst.“ S.157
Aber ich will Dörte Hansen nicht mit Homer vergleichen, nicht zu hoch hängen: obwohl es neben der überdehnten Exposition viele positive Elemente gibt, z.B. hochdrammmatische Elemente, spannend, skurril; obwohl das Porträt eines Alkoholikers lesenswert ist; das Bild einer jungen Frau mit Tätowierungen über und über, die nach geschlechtlicher Orientierung sucht; eine Satire über unsern Kunstbetrieb; und eine Abrechnung mit dem Tourismus, der in die Tiefe wirkt, rücksichtslos-zerstörerisch – ja, obwohl,obwohlobwohl – es gibt aber einen Einwand, und der wiegt schwer.
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Ich habe eben vor Dörte Hansen Jonathan Coe gelesen, dessen neuen Roman „Bournville“. Coe gelingt es, die Geschichte (s)einer Familie mit der des Landes zu verknüpfen, verbinden, amalgamieren und die Britanniens mit der Welt. Diese Einbettung „ihrer“ Familie in die große Geschichte, in die Entwicklung und Wandlungen der bundesdeutschen Gesellschaft gelingt Dörte Hansen kaum. Coe wirkt überzeugender, fundierter – aber Dörte Hansen ist dennoch unbedingt empfehlenswert. Die letzten Worte, die ich oben zitiert habe, beschreiben Eske – ich müsste mich schwer irren, wenn Frau Hansen hier nicht Züge ihrer selbst eingewoben hat.
Ulrich Fischer
Dörte Hansen: Zur See. Penguin Verlag. 253 S. – 21,99 €.
Jonathan Coe: Bournville. Penguin, 354 S., – 14,99 £