Ein Buch für Männer

Katrin Wichmann spricht ihren Roman „Salzgitter“ im Hörbuch selbst

Furios legt die Icherzählerin  in Katrin Wichmans Roman “ Salzgitter“ los. Sie hasst ihre Mutter. Mit gutem Grund, die hat ihr Tagebuch gelesen – und die Sechzehnjährige mit dem feuerroten Haar hat ihrem Tagebuch Intimes anvertraut, z.B. dass sie einem Freund einen geblasen hat. Kein Wunder, dass die Mama beunruhigt ist – aber ihre Tochter rast: DIESER VERTRAUENSBRUCH! – und zieht den Leser – pardon den Hörer, bei „Salzgitter“ handelt sich um ein Hörbuch – gleich ohne Umweg &Federlesen rein in die Handlung.

Der Entschluss, dass sie hier raus muss, steht felsenfest.

Der Handlungsbogen geht über den Verzicht aufs Abi (Ende der 90er Jahre)  über die Schauspielschule bis zur Prüfung – und ist mit Nummern gepflastert. Die Protagonistin führt ein Büchlein, in dem sie ihre Eroberungen notiert, sie hat bis 17 gezählt –   wenn auch nicht alle Ficks toll, harmonisch, erfüllend sind, so wird doch klar, wie viel besser es junge Mädchen und Frauen heute haben: sie können ohne Angst mit den Jungs rummachen – und die Jungs haben es auch besser. Es ist eine Lust, das zu lesen. Zumal „Salzgitter“ als Leben in einer deutschen Kleinstadt auch eine Analyse der Republik ist – deren stickige Sexualmoral von 1968, wie der verstorbene Papst lebhaft bedauert hat, weggeblasen (haha) wurde. (Katrin Wichmann gibt viele Hinweise auf Bücher, die sie inspiriert haben, u.a. auf Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ – der gesellschaftliche Fortschritt ist atemberaubend.)

Die Freundinnen von Laura (eine junge Amerikanerin) sind völlig von den Socken, als ich ihnen erzähle, dass wir es in Deutschland alle tun, ganz normal in unserem Zimmer, im Bett, ohne dass jemand reinkommt. Wir können uns die Pille beim Arzt holen, wenn wir wollen, und es gibt überall Kondome. Kein Problem. (6, 3’30“)

Den Höhepunkt setzt Katrin Wichmann kurz vors Ende – das ist kein Orgasmus. Bei der  Schauspielprüfung gelingt es der Heldin, ihre ganzen Ängste, ihre Ketten, ihr Salzgitter abzuwerfen und durchzudringen zu dem, was sie mit ihrer Rolle und ihrer Persönlichkeit als Schauspielerin sagen will: ihr Auftritt ist aggressiv, ist befreiend, ein Durchbruch. „Salzgitter“ ist eine Liebeserklärung an das Theater.

Katrin Wichmann ist selbst Schauspielerin, so dass sie, was sie (be)schreibt, nicht nur schriftstellerisch meistert, also kunstvoll ausformuliert, sondern gleichzeitig auch tief empfindet: der ganze Text, aber vor allem der Durchbruch, klingen  überzeugend, weil authentisch.

Klingen: denn wir hören Katrin Wichmann, sie liest ihren Roman. Und das ist gut so. Sie gibt dem Text mit ihrer jungen, mädchenhaften Stimme, eine zusätzliche Dimension. Frau Wichmann ist eine arrivierte Schauspielerin, sie hat ein Engagement in Berlin am Deutschen Theater – aber sie liest, wie man sich ein junges Mädchen vorstellen kann aus Salzgitter – also mit ungeformter Stimme, verschluckt mit Vorliebe Endsilben & sagt z.B. gern „ümmer“ statt immer. Die Ödnis Niedersachsens, das Ungebildete (im Wortsinn) spricht aus ihrer Aussprache, aber neben der Ödnis auch Lebenslust, mehr noch: élan vital.

Meine Fassung hat 75 Kapitel, jedes etwa vier bis fünf Minuten lang. Eine gute Einteilung – der Hörer kann mal Pause machen. Ich selbst, (Mitte siebzig), hab mich besonders privilegiert gefühlt:   nie sonst habe ich einen solchen unverfälschten Zugang zum Sexualleben, eine so aufrichtige, von keiner Scham verzerrte Schilderung eines jungen Mädchens bekommen. Meine Lieblingsmädchen sind die Heilige Johanna und Natascha (Krieg und Frieden – und natürlich Gretchen) – in „Salzgitter“ erfahre ich mehr, und wegen der Unverfälschtheit Wissenswertes, Glaubhaftes über Frauen.

„Salzgitter“ ist ein Buch für Männer.

Ulrich Fischer

Katrin Wichmann: Salzgitter. Roman. Gelesen von der Autorin. Laufzeit 319 Min. 20,00 Euro. speak low. – ausschließlich digital verfügbar.