Vorsicht! Anspruchsvoll!
Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg hat gute Karten. Im Wettbewerb um die spektakulärsten Projekte in der nächsten Spielzeit kündigen die Hanseaten ein Antikenprojekt an, das es in sich hat: Karin Beier, die Intendantin, schreibt in der Saisonvorschau: „Die Stadt Theben steht im Zentrum … Zusammen mit dem Schriftsteller Roland Schimmelpfennig haben wir uns an ein Experiment gewagt, und den umfangreichen Mythenkreis um Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste und Antigone, der die Gründung und die Geschichte dieser antiken Metropole beschreibt, zu einer fünfteiligen Serie unter dem Titel ANTHROPOLIS bearbeitet.“
Die Intendantin, eine renommierte Regisseurin, behält sich die Inszenierung des Projekts selbst vor. Schimmelpfennig hat sich mit seiner Vielzahl von Schauspielen, Stückaufträgen und Uraufführungen in aller Welt, von Hamburg und München über Tokio und Havanna bis Heidelberg und last but not least Berlin empfohlen und z.B. mit den „Bacchen“ auf einen Schwerpunkt seines Dramenschaffens hingewiesen: Bearbeitungen.
Seine „Bacchen von Euripides“ (2016 uraufgeführt) beginnt Roland Schimmelpfennig wie Euripides mit einem Auftritt Dionys‘. Schimmelpfennig aktualisiert die Sprache gegenüber landläufigen Übersetzungen radikal; wichtiger als das Versmaß ist ihm der Inhalt: Dionys behauptet, ein Gott zu sein. Um die Legitimität seiner Abkunft und damit seines Herrscheranspruchs zu unterfüttern, behauptet er, sein Vater sei Zeus, der oberste der Götter. Er weitet, wie bei Euripides, seinen Stammbaum aus und erklärt, er sei nach Theben gekommen, um auch den Thebanern zu beweisen, dass er ein neuer Gott sei:
„DIONYSOS
Hinter mir liegt eine unsichtbare Spur:
Überall auf dem Weg
habe ich meine Feste eingeführt,
die Musik, den Gesang, die Trommeln, die Tänze –
und jetzt werde ich auch hier in Griechenland
den Menschen zeigen, was ich bin:
ein neuer Gott!“ (S. 4 f.)
Damit sind der Gegensatz und der Konflikt mit Pentheus begründet, dem König von Theben: Pentheus bestreitet Dionys den göttlichen Rang. Wie bei Euripides unterliegt Pentheus. Der König, neugierig, welche Feste die Frauen feiern, verkleidet und versteckt sich, um sie zu belauschen, „heimlich zu beobachten!“, wird entdeckt und von seiner Mutter, die, verblendet, wähnt, er sei ein Löwe, zerrissen.
Schon in der Vorszene macht Schimmelpfennig klar, dass es ihm auf Verständlichkeit ankommt – er übersetzt nicht nur aus der fremden Sprache, sondern auch aus der weit entfernt liegenden Epoche, dem anderen Kulturkreis – ähnlich wie Peter Stein bei der „Orestie“ (1980), deren Übersetzung Regisseure oft noch heute ihren Inszenierungen zu Grunde legen. Gleichzeitig unterstreicht Schimmelpfennig die Bedeutsamkeit der uralten Tragödie für unsere Gegenwart: Pentheus‘ Feindseligkeit gegen Dionys ist ideologisch begründet; Schimmelpfennig schärft noch die Züge des Königs als autoritärer Herrscher, der den Frauen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Die Figur bekommt eine komische Seite, weil Pentheus gleichzeitig wissen möchte, welche Wonnen die Frauen durchleben, wenn sie, abgeschieden, ihre orgiastischen Feste feiern. Verständlich machen, untersuchen, wieweit der alte Stoff, die alten Figuren bedeutsam sein könnten für uns heute – das sind offenbar(e) Motive Schimmelpfennigs für seine Bearbeitung.
Die Fortdauer des Vergangenen im Heute gilt nicht nur für die Bacchen, sondern auch für andere griechische Dramen. Das ist mutmaßlich ein Beweggrund für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg den neu zu schaffenden griechischdeutschenthebanischhamburgischen Fünfteiler aufzuführen. Die Intendantin wirbt: „Von Anfang an war Theben gebaut mit Wehrhaftigkeit, Kunst und Kriegskunst. Mauern mit sieben Türmen, die eine feste Grenze zwischen Stadt und Welt setzen, die Tendenz, sich abzuschließen im eigenen Reichtum und sich selbst als ewig zu denken – so einzigartig Theben war, vieles davon findet sich unter anderen Paramtern heute wieder.“
Das Talent Schimmelpfennigs erweist sich immer wieder in seinem umfangreichen Œuvre in der Aufnahme aktueller Themen, aber auch großer Stoffe der Theater- und Literaturgeschichte, die ihn reizen, weil er sie neu zu deuten weiß. Theaterleute in aller Welt schätzen dieses Talent und gehen das Risiko ein, ihm Aufträge zu erteilen, weil sie guten Grund zu der Annahme haben, dass Schimmelpfennig ein Stück glückt, das ihren Spielplan bereichert, weil es im Publikum wie bei der Kritik für Diskussionen, für Erkenntniszuwachs und Bewusstseinswandel sorgt.
Insofern ist der große Auftrag, das Antikenprojekt im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg eine konsequente Fortsetzung und ein Höhepunkt. Schon der kühne Entwurf, der an Peter Stein und das Ensemble der Schaubühne in ihrer starken Phase erinnert, setzt Maßstäbe.
Die Sterne im Wettbewerb der Besten stehen für das Deutsche Schauspielhaus günstig.
Ulrich Fischer
Internet: www.schauspielhaus.de