
„Während ich an einem Stück schreibe, denke ich schon an das nächste und noch ein drittes. Dadurch entstehen Blöcke, die für mich wie ein zusammenhängender Arbeitsprozess erscheinen … Ich habe bisher an die siebenundzwanzig Stücke geschrieben, aber gedanklich sind die in sechs oder sieben kreativen Blöcken entstanden“, erklärte Roland Schimmelpfennig in einem Interview. Dieser Hinweis ermöglicht eine umfassende Analyse von Schimmelpfennigs Œuvre, auch wenn nur wenige ausgewählte Stücke betrachtet werden – die anderen sind nach vergleichbaren Prinzipien konstruiert. Das Schauspiel, das die wichtigsten Bausteine miteinander verbindet, ist „Der goldene Drache“ (2010).
„Der goldene Drache“ ist der Name eines „Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants“ (1. Szene), gleichzeitig aber auch der vielversprechende Titel eines exotischen Märchens. Eine dritte Deutungsmöglichkeit erschließt sich am Ende, mit dem „goldenen Drachen“ ist Deutschland im Zeitalter der Globalisierung gemeint.
Mit seinem Gold lockt der Drache Beute an. Im Spannungsfeld dieser Mehrdeutigkeit entfaltet Schimmelpfennig eine einerseits einfache, andererseits hochkomplexe, vielschichtige Fabel: In der „winzigen Küche“ (1. Szene) des Schnellrestaurants arbeiten fünf Köchinnen und Köche. Ein junger Chinese leidet an heftigsten Zahnschmerzen. Da er sich illegal in Deutschland aufhält, wagt er nicht, zum Arzt zu gehen. Seine Kollegen versuchen ihm zu helfen, einer greift zu einer Rohrzange, um den kariösen Zahn herauszureißen. Der junge Mann überlebt die barbarische Operation nicht. Seine Kollegen werfen seine Leiche in einen Fluss; der Tote erzählt, wie er im Wasser nach Hause, nach China zurückkehrt. Schimmelpfennig wechselt von krudester Wirklichkeitsbeschreibung unvermittelt in die Fabulierlust des Märchenerzählers.
Mit diesem Hauptstrang verflicht er andere Geschichten, die zunächst völlig unabhängig wirken, obwohl sie alle in dem Haus spielen, in dessen Erdgeschoß das Schnellrestaurant „Zum goldenen Drachen“ seine Dienste anbietet. Erst nach und nach erschließt sich dem Zuschauer der innere thematische Zusammenhang: Der goldene Drachen zieht mit seinem Wohlstand versprechenden Glanz Menschen aus armen Weltteilen an, die, wenn sie das (zweifelhafte?) Glück haben, die hohen Mauern zu überwinden, als Sanspapiers rechtlos leben und ausgebeutet werden (können).
Die Dialektik von Zufall und Gesetzmäßigkeit nimmt Schimmelpfennig auch in der Form auf: er reiht 48 kurze Szenen hintereinander. Gerhard Stadelmaier irrte, als er in seiner Uraufführungskritik notierte: „Der Autor verhilft als Regisseur seinem Stück, das nur aus Schnipseln besteht, zu einem Liebevoll-witzigen Ganzen.“ Die „Schnipsel“ sind vielmehr „47 (sic!) präzise ineinander geschnittene Kurz- und Kürzestszenen“ (Franz Wille). Die Zuschauer müssen aufmerksam der Handlung folgen, um ihren inneren und thematischen Zusammenhang zu erkennen. Tatsächlich spinnt Schimmelpfennig einen roten Faden, konstruiert eine klassische Handlung, die, wie in der Tragödie, der Katastrophe zueilt. Am Ende ist der junge Mann tot, seine (mutmaßliche) Schwester, schwer verletzt, weiter in der Hand ihres Peinigers, und der Zahn, der dem jungen Chinesen ausgebrochen wurde, ein Symbol für die Unordnung und das unmenschliche Chaos, verschwunden. Das letzte Wort des Schauspiels lautet „Dunkelheit“. (Szene 48).
Die Reihung der Szenen ist keineswegs beliebig – der Aufbau folgt einem didaktischen Konzept. Anfangs meint der Zuschauer, mehrere Geschichten zu sehen, erst nach und nach bemerkt er, wie Schimmelpfennig die Fäden zu einer Handlung verflicht, um zum Schluss den thematischen Kern zu erfassen. „Der goldene Drache“ ist insofern mehr als nur „eine Parabel über die Gleichgültigkeit der Welt.“ (Patric Blaser). Das Schauspiel erweist sich als Lehrstück, der Zuschauer wird sehend. Wenn er demnächst wieder in einem Schnellrestaurant chinesische, thai- oder vietnamesische Speisen für wenig Geld bestellt, kann er hinter der exotischen Fassade des „Goldenen Drachen“ den goldenen Drachen, dessen Zelle er selbst ist, erkennen – er erblickt Zusammenhänge unter der Oberfläche.
Die Tiefenschichtung und Komplexität des Stücks erhöht ein gattungsspezifisches Instrument. Jeder Rolle weist Schimmelpfennig weitere zu: „EIN JUNGER MANN“ spielt nicht nur den jungen Mann, sondern zugleich noch den „Großvater“, einen „Asiaten“, „die Kellnerin“ und „die Grille“. „Fünf Darsteller schlüpfen abwechselnd in die fünfzehn Rollen, immer erkennbar an kleinen Accessoires wie einem rot-gelben Halstuch, einer Perücke oder der blauen Schürze. Weitere Verwirrung: Frauen spielen Männer, Männer mimen Frauen, alt spielt jung und umgekehrt.“ (Arved Gintenreiter). Gleichwohl bleibt die Übersicht gewahrt, denn die Schauspieler sprechen neben dem Text ihrer Figur auch die Umstände, in der sie sich befindet, und beschreiben, aus der Illusionsebene in die epische, beschreibende tretend, wen sie gerade spielen:
„DER MANN Der goldene Drache. Früher Abend. Fahles Sommerlicht fällt durch die Fensterscheiben auf die Tische. Fünf Asiaten in der winzigen Küche des Thai-China-Vietnam-Schnellrestaurants.
DIE JUNGE FRAU Ein junger Chinese, panisch vor Zahnschmerzen:
panisch.
Der Schmerz, der Schmerz, der Schmerz –
Die junge Frau schreit vor Schmerz.“ (1. Szene)
Die Virtuosität des Spiels hat ihren Grund im Reichtum ihrer Mittel, in der Sorgfalt, mit der sie ausgewählt und, dem angestrebten Ziel entsprechend, eingesetzt werden. Auf den ersten Blick wirkt Schimmelpfennig wie ein Postmoderner – anything goes. Seinen Rang gewinnt er, indem er, wie etwa angelsächsische Romanciers – Antonia Byatt oder Jonathan Coe – Postmoderne nicht nur als Exploitation, Destruktion und Überwindung herkömmlicher Formen versteht, sondern auch und vor allem als Wiederherstellung des Ganzen, der Totalität im hegelschen Sinn. Wenn Schimmelpfennig in „Der goldene Drache“ Collage und streng gebaute Handlung, Didaxe und den eher harmlos übertreibenden Witz der Commedia dell’arte, Fabel im Sinn La Fontaines und deren offene Rücknahme ins Menschliche ironisch und artistisch nebeneinander stellt, so hebt er sie gleichzeitig doch im Stückganzen wieder auf. Schimmelpfennigs Fähigkeit zur Analyse wiegt in „Der goldene Drache“ gleich schwer wie die zur Synthese.
Roland Schimmelpfennig hat sich Kenntnisse und Handwerk, Kunst und Engagement nach und nach angeeignet – offenbar systematisch –, bis es ihm gelang, sie in seinem „Meisterstück“ (Christine Dössel) in einem Schauspiel zusammenzuführen. Dabei wirkt er von der Regiekunst Jürgen Goschs inspiriert, der einige seiner Stücke inszeniert hatte. Gosch besetzte gern Rollen gegen den offensichtlichen Typ und spannte die Distanz zwischen Dargestelltem und Darsteller sehr viel weiter als üblich. Schimmelpfennig antizipierte diese Regieeinfälle und zielte so schon beim Konzipieren und Schreiben seiner Stücke auf vertiefte Bühnenwirksamkeit, die Ideen des epischen Theaters aufgreift, insbesondere den Schauspielern einen größeren Raum für ihre Kunst gewinnt.
Schimmelpfennig eröffnet fast immer mehrere Interpretationsmöglichkeiten, eine Deutung legt er durch das Verhältnis von Form und Inhalt nahe. In „Die ewige Maria“ – aber auch in „Wie einst im Mai“ und anderen Stücken – wies er auf die seinem Stück zugrunde liegende Philosophie, ähnlich wie Brecht, mit einem Lied hin: „Die große Fuhre Sommer/fährt langsam übers Land,/der Herbst, der läuft dahinter,/den Winter an der Hand.//(…) So wünscht ich mir den Sommer, das Korn streift sanft der Wind./So wünscht ich mir den Winter,/dass wir zusammen sind.“ Dem wie die Jahreszeiten unbeeinflussbaren Ablauf der Ereignisse kann der Mensch nichts gegenüberstellen als seine Wünsche – und ein Lied. Den Gedanken, dass die Kunst, das spielerische Element, eine Zuflucht gegen die unwirtlicher werdende Welt bietet, hier erst angedeutet, arbeitet Schimmelpfennig im Lauf der Zeit immer klarer heraus und formt ihn um zu einem zentralen Argument für sein Theater: die Grenzenlosigkeit der Kunst spiegelt und birgt gleichzeitig Freiheitspotenziale im Leben.
Als reizvoll empfanden Publikum, Kritik und viele Theater “Die arabische Nacht” (UA 2001). In einer heißen Sommernacht fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge, Begierde und Angst.
Das Gravitationszentrum des Stücks mit ausgeprägt märchen- und traumhaften Zügen ist ein Fluch. Franziska erzählt, sie sei als kleines Mädchen mit ihren Eltern nach Istanbul gereist, im Basar entführt und an den unermesslich reichen „Scheich Al Harad Barhadba“ verkauft worden, in dessen Harem sie heranwuchs. Als sie 20 wurde, erwachte im väterlichen Freund Leidenschaft, und die erste Haremsdame verfluchte die junge Rivalin: „Unglück sollst du bringen über jeden, der deine Lippen küßt und nie mehr sollst du den Mond sehen, bis du eines Nachts zu dem wirst, was du in Wahrheit bist.“ Am Vorabend dieser Nacht setzt die Handlung ein. Franziska lebt jetzt in einer europäischen Großstadt und kehrt nach der Arbeit als medizinisch-technische Assistentin in ihre Wohnung in einem Hochhaus zurück; sie wird vom Schlaf übermannt. Der Fluch erfüllt sich, geheimnisvolle Kräfte ziehen drei Männer mächtig an. In einem ebenso wunderbaren wie betriebsamen Netzwerk von scheinbar folgerichtigen Ereignissen kommen Kalil, Peter Karpati und Hans Lomeier in Franziskas Wohnung und küssen die Schlafende. Kalil wird von seiner Geliebten erwischt, verfolgt und erdolcht. Karpati schnurrt zu einem Winzling zusammen und wird ins Innere einer fast leeren Cognacflasche gebannt. Hans Lomeier aber wird erlöst.
Wie stets bei Schimmelpfennig sind die Deutungs- und folglich die Inszenierungsmöglichkeiten vielfältig – hier besonders evident, weil „Die arabische Nacht“ gleich nach der Uraufführung häufig nachgespielt wurde. Einige Kritiker monierten, Schimmelpfennig habe Regieanweisungen dem Dialog der Figuren zugeordnet: eine Verdoppelung, die dem Stück die Leichtigkeit des Traums, die die Fabel nahelege, wieder nähme. Dass diese Verdoppelung keineswegs zwangsläufig ist, wies spätestens Günter Krämer mit seiner Inszenierung nach: Sie betont die Differenz von Sprechen und Handeln und so die Traumumfangenheit aller Gestalten. „Das Stück spielt auf verschiedenen Phantasieebenen“, stellte Schimmelpfennig (2002) fest.
Schimmelpfennig wird oft als Romantiker bezeichnet – tatsächlich erinnert Franziskas Traum an den Käthchens. Kleist ordnet seinem „Käthchen von Heilbronn“ überhaupt, gerade aber im berühmten Traum unter dem „Holunderstrauch“, die Fähigkeit zu, eine Realität wahrzunehmen und mitzuteilen, die aller Alltagsvernunft weit überlegen ist. Die Realität hingegen erscheint der Vision gegenüber als Traum, der die vom Verblendungszusammenhang der Realität Umfangenen fesselt.
“Push up” scheint auf den ersten Blick einen deutlichen Bruch in Schimmelpfennigs Arbeit anzuzeigen: Der Autor als Sozialkritiker.
Sabine hat Angelika, ihre Chefin, um ein Gespräch gebeten; ehe das Publikum erfährt, worum es darin ging – die Handlung wird in bewährter Schimmelpfennig-Technik retrospektiv gezeigt -, ist klar, dass das Gespräch desaströs endete. Angelika hat die Haltung verloren und Sabine Kaffee ins Gesicht geschüttet. Der Konflikt erscheint zunächst einfach und übersichtlich. Sabine ist das Muster einer erfolgreichen Managerin. Obwohl noch nicht einmal dreißig, ist sie schon weit auf der Karriereleiter emporgestiegen; sie will weiter, das Büro in Delhi leiten. Angelika, deren Wort entscheidet, sagt nein.
Schimmelpfennig unterstreicht mit dem Dialog die Konkurrenz zwischen den Frauen. Sabine lehnt ab, irgendetwas zu verschleiern, sie will im Gegenteil entlarven, dass Angelika ihr Delhi nicht gönnt, weil sie eine Konkurrentin behindern will. Nach und nach schält sich heraus, dass Angelika noch ein anderes Motiv hat. Ihr Mann protegiert Sabine. Das zur Schau getragene Selbstbewusstsein der Chefin ist Maske; dahinter werden die Ängste der alternden Frau sichtbar.
Dabei lügen beide. Das Publikum weiß es, denn in zwischengeschalteten Monologen teilen die Damen ungeschminkt mit, wie sie leben: Ohne Sex, für die Karriere. Der Alltag, den sie zeichnen, scheint verfehlt, die Arbeit an der Karriere ein Götze, auf dessen Altar ein sinnvolle(er)s Leben geopfert wird.
Im Vordergrund von Schimmelpfennigs Gesellschaftskritik steht wie in Caryl Churchills „Top Girls“ die Einsicht, dass die Frauenemanzipation nicht, wie gehofft, eine Linderung der Konkurrenz gebracht hat, sondern Frauen nun auch im Beruf aufeinander losgehen lässt.
Der bis zum Funkeln geschliffene Dialog bringt zur Sprache, was sonst sorgfältig verborgen wird. Das Stück gewinnt dramatische Dynamik durch den Mut auszusprechen, was gemeinhin beschwiegen wird.
Die Deformationen der Figuren im aufstiegsorientierten mittleren Management sind komplex: Sie wollen sich um jeden Preis anpassen, selbst ihre Aggressionen dienen noch diesem Bedürfnis – damit aber fehlt ihnen, was sie wirklich brauchen, um Führungskräfte zu werden: Autonomie, Selbständigkeit, Souveränität. Schimmelpfennig skizziert subalterne Charaktere.
“Push up” – schon der Titel, der sowohl Liegestütze beschreibt als auch BHs, die die Brüste nach oben drücken, um eine nicht vorhandene Fülle vorzutäuschen, ist in seiner Mehrdeutigkeit erheiternd geistreich.
Die Hinwendung zu sozialkritischen Inhalten blieb für Schimmelpfennig nur eine von mehreren Möglichkeiten. Zusammenhanglosigkeit und Fragmentierung in der Form rückte er im nächsten Stück, “Vorher/Nachher” (UA 2002), aber auch später in „Auf der Greifswalder Straße“ (UA 2006) wieder ins Zentrum.
Schimmelpfennig knüpft mehrfach an die Absurden an, allerdings übertrifft er selten deren Meister: Samuel Becketts “Endspiel” und “Glückliche Tage“ wirken nicht zuletzt wegen des Humors souveräner, damit auch unterhaltsamer. Nur „Alice im Wunderland“ (UA 2003) kann es in puncto Witz und Kurzweil, allerdings nicht an Bedeutsamkeit, mit Beckett aufnehmen. In Anlehnung an Lewis Carrolls Kinderbuch zeigt Schimmelpfennig ironische, leicht zu enträtselnde Verwandlungen des Alltagslebens.
Ambivalenter als in „Vorher/Nachher“ ist der wirkungsästhetische Aspekt von „Für eine bessere Welt“ (UA 2003), obwohl das Schauspiel ähnlich gebaut ist wie „Vorher/Nachher“: Als eine Collage, weite Teile davon Textteppiche (wie bei Elfriede Jelinek), die der Dramatiker nicht einzelnen Spielern zuordnet – Schimmelpfennig gibt die Aufgabe, für die Inszenierungen die angemessene Lösung zu finden, an den Regisseur und das Ensemble weiter.
Die Collage verwebt ganz unterschiedliche Mythen zum Thema Krieg und ungerechte Herrschaft miteinander: eine an Ovids „Metamorphosen“ erinnernde Göttergeschichte; eine phantastische Science-Fiction-Story mit einem Planeten, der sich selbst verzehrt und immer wieder neu hervorbringt; und mehrere Filme, „Catch 22“, vor allem aber „Apocalypse Now“. Schimmelpfennig analysiert nicht einen konkreten Krieg, er versucht vielmehr, der inneren Realität des Bewusstseins seiner Generation im Zeitalter des Irak-Kriegs gerecht zu werden. Die Handlung tritt gegenüber der Vielfalt subjektiver Ängste und Beunruhigungen zurück. Mit Hilfe der Mythen wird die wechselseitige Durchdringung von Erleben, Erinnern und Phantasieren dargestellt, die in ihrer analytischen Unschärfe zu Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit führen. Schimmelpfennig gelingt es, die Ambivalenz dieses Bewusstseins zu erfassen: das Gefühl der Ohnmacht einerseits und die wegen der Angst, selbst in den Sog der kriegerischen Ereignisse hineingezogen zu werden, immer drängender werdende Notwendigkeit andererseits, die Lähmung der Orientierungslosigkeit zu überwinden und zu handeln, um der Tendenz zum Krieg entgegenzutreten und sich zu befreien. Dieser unaufgehobene Widerspruch des Bewusstseins ist der thematische Kern von „Eine bessere Welt“. In der kaum spürbar antizipierten Zukunft findet sich eine Rechtfertigung für den Titel.
Das Plädoyer, handelnd einzugreifen, grundiert (auch) „Die Frau von früher“ (2004); Barbara Villiger Heilig nennt die 19 Szenen „Boulevardtragödie“, ein Oxymoron, das den Inhalt wie die Wirkungsabsichten, die sich gegenseitig ausschließen, gleichermaßen trifft. Schimmelpfennig wies diesem Stück besondere Bedeutung zu, indem er dem Sammelband für seine ersten 15 Stücke diesen Titel gab.
28 Stücke in nur 15 Jahren: Schimmelpfennigs Produktivität hat einen Grund in seiner Ökonomie, einen anderen in der Methode. Wird ein Thema in einem Stück am Rande angesprochen, so wird es in einem anderen in den Mittelpunkt gerückt. Viele seiner Stücke wirken wie zusammengesetzt aus Samples. Die Sampletechnik erlaubt es, Bausteine für ein Produkt zu nutzen, sie zu kopieren und abzuwandeln, um sie für ein zweites Produkt neu zusammenzusetzen und zu mischen. Die äußerst geschmeidige Methode ermöglicht, unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen, einfach, indem das Gewicht verlagert, das Sujet variiert wird.
Schimmelpfennigs Dramen erinnern häufig an die anderer Autoren, intertextuelle Verweise werden offen angestrebt – nicht nur auf Beckett, Botho Strauß, Shakespeare und die Romantiker oder auf Ovid und Euripides, sondern auch auf Homer.
Um der Nachahmung zu entgehen, übernimmt Schimmelpfennig nicht fremde Texte, sondern eignet sich deren Sujet oder Form an, indem er sie seinen Bedürfnissen entsprechend umbildet und in einen neuen Zusammenhang stellt. Der riesige Vorrat wie seine dem Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung angemessene Methode, vorgefundene Texte zu bearbeiten, zu samplen und neu zusammenzusetzen, sind Hinweise darauf, dass Schimmelpfennig als Dramatiker weiterhin außerordentlich fruchtbar und produktiv bleiben dürfte.
Schimmelpfennig ist ein schöpferischer, gebildeter, konservativer, aber auch liberaler Autor. Er ist indes nie affirmativ und verzichtet nur selten auf Gesellschaftskritik. Statt sozialer Veränderungen oder gar eines revolutionären Umsturzes strebt er eher einen Wandel der Bewusstseine an. Welche Folgen der haben könnte, davon ist bei ihm weniger die Rede. Nur eines scheint klar: sein Theater soll durch den Genuss bei der Aneignung des Erbes wie des Gegenwartsdramas einen Zuwachs an geistiger Unabhängigkeit und innerer Freiheit seines Publikums fördern.
Nichts stellt das Ansehen und den Rang Roland Schimmelpfennigs als Dramatiker in helleres Scheinwerferlicht, als das Projekt des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg für die Spielzeit 2023-24. Karin Beier, die Intendantin, schreibt in der Saisonvorschau: „Die Stadt Theben steht im Zentrum unserer Spielzeit. Zusammen mit dem Schriftsteller Roland Schimmelpfennig haben wir uns an ein Experiment gewagt, und den umfangreichen Mythenkreis um Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste und Antigone, der die Gründung und die Geschichte dieser antiken Metropole beschreibt, zu einer fünfteiligen Serie unter dem Titel ANTHROPOLIS bearbeitet.“
Die Intendantin, eine renommierte Regisseurin, behält sich die Inszenierung des Projekts selbst vor. Schimmelpfennig hat sich mit seiner Vielzahl von Schauspielen, Stückaufträgen und Uraufführungen in aller Welt, von Hamburg und München über Tokio und Havanna bis Heidelberg und last but not least Berlin empfohlen und mit den „Bacchen“ auf einen Schwerpunkt seines Dramenschaffens hingewiesen: Bearbeitungen.
„Die Bacchen von Euripides“, so Schimmelpfennigs Bearbeitungstitel, wurde am 11. 3. 2016 in der Regie von Robert Borgmann am Theater Basel uraufgeführt. Wie Euripides beginnt Roland Schimmelpfennig mit einem Auftritt Dionys‘. Schimmelpfennig aktualisiert die Sprache gegenüber landläufigen Übersetzungen radikal; wichtiger als das Versmaß ist ihm der Inhalt: Dionys behauptet, ein Gott zu sein. Um die Legitimität seiner Abkunft und damit seines Herrscheranspruchs zu unterfüttern, behauptet er, sein Vater sei Zeus, der oberste der Götter. Er weitet, wie bei Euripides, seinen Stammbaum aus und erklärt, er sei nach Theben gekommen, um auch den Thebanern zu beweisen, dass er ein neuer Gott sei:
„DIONYSOS
Hinter mir liegt eine unsichtbare Spur:
Überall auf dem Weg
habe ich meine Feste eingeführt,
die Musik, den Gesang, die Trommeln, die Tänze –
und jetzt werde ich auch hier in Griechenland
den Menschen zeigen, was ich bin:
ein neuer Gott!“ (S. 4 f.)
Damit sind der Gegensatz und der Konflikt mit Pentheus begründet, dem König von Theben: Pentheus bestreitet Dionys den göttlichen Rang. Wie bei Euripides unterliegt Pentheus. Der König, neugierig, welche Feste die Frauen feiern, verkleidet und versteckt sich, um sie zu belauschen, „heimlich zu beobachten!“ (S. 51), wird entdeckt und von seiner Mutter, die, verblendet, wähnt, er sei ein Löwe, zerrissen.
Schon in der Vorszene wird klar, dass es Schimmelpfennig auf Verständlichkeit ankommt – er übersetzt nicht nur aus der fremden Sprache, sondern auch der weit entfernt liegenden Epoche, dem anderen Kulturkreis – ähnlich wie Peter Stein bei der „Orestie“ (1980), deren Übersetzung Regisseure oft noch heute ihren Inszenierungen zu Grunde legen. Gleichzeitig unterstreicht Schimmelpfennig die Bedeutsamkeit der uralten Tragödie für unsere Gegenwart: Pentheus‘ Feindseligkeit gegen Dionys ist ideologisch begründet; Schimmelpfennig schärft noch die Züge des Königs als autoritärer Herrscher, der den Frauen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Die Figur bekommt eine komische Seite, weil Pentheus gleichzeitig wissen möchte, welche Wonnen die Frauen durchleben, wenn sie, abgeschieden, ihre orgiastischen Feste feiern. Verständlich machen, untersuchen, wieweit der alte Stoff, die alten Figuren bedeutsam sein könnten für uns heute – das sind offenbar(e) Motive Schimmelpfennigs für seine Bearbeitung.
Die Fortdauer des Vergangenen im Heute gilt nicht nur für die Bacchen, sondern auch für andere griechische Dramen. Das ist mutmaßlich ein Beweggrund für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg den neu geschaffenen griechischdeutschenthebanischhamburgischen Fünfteiler aufzuführen. Die Intendantin wirbt: „Von Anfang an war Theben gebaut mit Wehrhaftigkeit, Kunst und Kriegskunst. Mauern mit sieben Türmen, die eine feste Grenze zwischen Stadt und Welt setzen, die Tendenz, sich abzuschließen im eigenen Reichtum und sich selbst als ewig zu denken – so einzigartig Theben war, vieles davon findet sich unter anderen Paramtern heute wieder.“
Dieses Muster von Geschichte und Gegenwart lässt sich unschwer auf „Auf dem Weg zu Persephone“, eines der wenigen Stücke, das bislang noch nicht uraufgeführt ist, übertragen.
Die antike Sage über Persephone liegt uns Heutigen fern. Mitunter wird die Geschichte Phädras in der klassischen Fassung Racines aufgeführt. Insofern ist es interessant, die Geschichte ihres Gatten Theseus, den Phädra hintergeht, zu erfahren. Theseus ist berühmt, weil er den Minotaurus,ein Ungeheuer, halb Stier halb Mensch, bezwungen haben will.
Persephone, die Gattin des Gottes der Unterwelt, wird von Peirithoos begehrt und Theseus, sein Freund, begleitet ihn auf der Fahrt ins Totenreich Von dort kehrte bislang niemand wieder. Als Theseus der Regel trotzt, beginnt eine Kette von Verhängnissen und Gewalttaten. Peirithoos hat schon Hände und Füße verloren, als Theseus ihn rettet; er schleppt den schwer verletzten Freund nach Haus. Dort kommt Theseus gerade an, als Phaidra und Hyppolyth heiraten – der Sohn Theseus‘ dessen Frau, Hyppoliths Stiefmutter. Phädra begeht, bevor ihr Gatte sich an ihr rächen kann, Selbstmord: „Meine Frau/hat meinen Sohn geheiratet,/und dann hat sie sich selbst getötet,/bevor ich sie töten konnte;“ (S. 108) Theseus sucht den Tod und beschwört seinen Sohn, ihn umzubringen: „was niemandem gelang/dem Minotaurus nicht, und nicht Eurytion, und nicht Persephone/jag deinen Speer/durch mich hindurch,/reiß meinen Körper auf,/bring mich um -“ (S. 118). Aber Theseus kann den Tod nicht finden; sein Sohn Hippolythos stirbt bei seiner Verfolgung -Theseus ist zum Leben verurteilt.
So verwickelt die Geschichte wirkt, klar wird, dass die Liebe roher Gewalt unterliegt. Schimmelpfennig betont die Grausamkeiten, die seine Figuren oft bis in die Einzelheiten beschreiben. Das Interesse gilt einerseits der Sage, andererseits ihrer Aktualität: die Atrozitäten haben bis heute nicht aufgehört, der Rachegeist lebt fort. Er kann, wie Theseus, der ihn verkörpert, nicht sterben.
Reizvoll sind Sagengestalten wie Kentauren, halb Mensch, halb Pferd und andere Mischwesen, die das Tierische im Menschen (und das Menschliche in Tieren) sichtbar machen. Schimmelpfennig belebt die alten Sagengestalten, um heutige Abscheulichkeiten zu erklären und darauf aufmerksam zu machen, dass die Menschwerdung des Menschen bis heute nicht abgeschlossen ist. Gerade in den Passagen, in denen Sagengestalten und ihre Kämpfe beschrieben werden, bewährt sich Schimmelpfennigs Fabulierlust ein weiteres Mal.
Gute Voraussetzungen für das große Antiken-Projekt in Hamburg. Das gilt auch und in besonderem Maß für die „Odyssee“, eine Auftragsarbeit für das Staatsschauspiel Dresden, die in der Regie von Tilmann Köhler am 15.09.2018 im Staatstheater Dresden uraufgeführt wurde.
Zur Geschichte der Odyssee gehört bei Homer zentral die treue Gattin Penelope, die zwanzig Jahren auf Odysseus wartet und die Avancen der Freier, Ithakas Jeunesse dorée, energisch und prinzipienstreng abweist. Ganz anders Schimmelpfennig: „Jahr für Jahr/kehrt Odysseus, der Städtezerstörer, nicht heim,/und Penelope fährt mit ihrem Geliebten,/einem Lehrer mit einem Kleinwagen,/in die Berge,/und dort lieben sie sich heimlich.“ (S. 100) In diesen Nächten erzählt der Lehrer Penelope Geschichten, in denen er Gründe für Odysseus‘ Fernbleiben ersinnt.
Wie schon in der Exposition mischen sich in diesen Skizzen Anklänge an Homers Odyssee mit realistischen Erzählungen aus unserer Zeit. Kirke wird zum Beispiel die ganze Szene 15 (S. 75 ff.) gewidmet. Die Insel der Göttin verwandelt Schimmelpfennig in eine vulgäre Kneipe, ihr Anziehungspunkt ist der Busen der Wirtin. Die zunehmend verwahrlosenden Männer kehren immer wieder, jahrelang, trinken Bier und reißen Zoten, deren Gegenstand sie selbst und ihre Zechkumpane sind: sie verwandeln sich in Schweine (nicht ganz) wie in Homers Gesang – und doch ganz anders. Schimmelpfennigs Umwandlung ist geistreich und reizt zum Lachen. Die mythische Geschichte mit der Zauberin ist leicht zu entzaubern, Schimmelpfennig macht deutlich, dass die Odyssee nicht nur vergangen, sondern auch gegenwärtig ist, vor fast dreitausend Jahren auf einer Insel im Mittelmeer wie hier und heute, in der mythischen wie in der Sphäre roher Wirklichkeit. Dafür öffnet Schimmelpfennig die Augen.
Das Ende verändert Schimmelpfennig wie den Anfang. Odysseus tötet nicht nur Penelopes Freier, er ermordet nach und nach alle Männer auf Ithaka. Doch das bringt nicht das ersehnte gute Ende, Odysseus bleibt ruhelos. Am Ende schließt er die Augen, „sieht nichts mehr.“ – Vielleicht stirbt er. „Dieser Tag wird ein besonderer Tag. //EINE WEITERE FRAU/Sie flüstert vom Frieden.//EINE FRAU/Sie flüstert von der Hoffnung.//EINE ANDERE FRAU/Sie flüstert vom Glück.//Kurze Pause.// EINE WEITERE FRAU/Sie flüstert vom Aufbruch.“ (S. 123.)
Der Gedanke, das alte Epos handele vom Aufbruch, ist originell, nachvollziehbar und wirkt durch die Einbeziehung unserer Gegenwart aktuell. Das Schauspiel besticht durch Scharfsinn und Humor – vor allem die Grundannahme, Penelope warte nicht zwanzig Jahre auf ihren Gatten, gibt der Interpretation eine realistische Wendung, die dazu einlädt, die Odyssee neu, unvoreingenommen und ohne falsche, lähmende Ehrfurcht vor dem alten Kunstwerk zu betrachten, es neu zu sehen. Die Sichtweise wirkt kühn und zeigt Schimmelpfennigs Stärken unvoreingenommenen Betrachtens, analytischer Schärfe und der Umsetzung seiner Erkenntnisse in kristallklare, oft verblüffende Szenen im hellsten Licht.
Am überzeugendsten wirkt eine Szene am Anfang, in der der Aufbruch der edlen Achäer durch wenige Federstriche als Überfall von bedenken-und gewissenlosen Räubern auf arglose Zeitgenossen charakterisiert wird. Die Odyssee, mehr noch die vorausgehende Ilias, beschreibt mit dem Angriff auf Troja einen Überfall – und legt nahe, dass auch die kriegerischen Auseinandersetzungen unserer neueren Epochen Raubzüge sind, schlecht gerechtfertigt durch leicht durchschaubare Narrative, die die wahren Motive: Gier, Blutdurst, vor allem aber Herrschsucht, nicht zu verdecken vermögen. Griechen und heutige Kriegsherren sind skrupellose Eroberer. Es bedarf keines großen künstlerischen oder intellektuellen Aufwands, sie zu entlarven. Gerade in der Einfachheit der Methode liegt wegen ihrer (Unmiss)Verständlichkeit die Überzeugungskraft von Schimmelpfennigs oft epischem Theater – er und seine Szenen machen keine Umstände. Dieses Theater nimmt Partei gegen Krieger und Räuber, klagt den Imperialismus und Kolonialismus an. Schimmelpfennigs Aufenthalte in der Türkei und Kuba haben tiefe und sichtbare Spuren in seinem Œuvre hinterlassen. Die Verklärung siegreicher Mächte als Herrenmenschen, als turmhoch überlegene Rasse entlarvt Schimmelpfennig als pure Anmaßung.
Schimmelpfennig hat nicht nur Stoffe und Werke der Alten bearbeitet, sondern auch Werke jüngerer Jahrhunderte. Dazu gehören auch Kinderstücke: „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ für „Kinder ab 5 Jahren“, 2019 in Berlin im Theater an der Parkaue in der Inszenierung Schimmelpfennigs uraufgeführt, ist von Hans Christian Andersens „Der standhafte Zinnsoldat“ inspiriert – indes stark verändert. Ein Junge bekommt zum Geburtstag einen Zinnsoldaten und eine Ballerina geschenkt, doch andere Geschenke zieht er vor – denn die Ballerina ist nur aus Papier und dem Zinnsoldaten fehlt ein Bein. Der Junge legt die Spielzeuge beiseite aufs Fensterbrett, sie fliegen hinaus und beginnen eine abenteuerliche Reise. Die Ballerina z.B. landet im Nest einer Elster und soll für die sechs Küken tanzen, die mit ihrem ewigen Streit der Mutter das Leben zur Hölle machen. – Das kurze Stück, das Kinder ab fünf nicht überfordert, endet gut: Zinnsoldat und Papierballerina finden nach der gewaltsamen Trennung wieder zueinander.
Die Didaxe des Stücks zielt darauf, Kindern Einfühlungsvermögen zu vermitteln, Mitgefühl – und Schimmelpfennig vergisst auch die Erwachsenen nicht, die Eltern, die hinter den Elstern und dem stumpfen Jungen, der seine Spielzeuge nicht schätzt, leicht Zeitgenoss*innen erkennen können. Der Zinnsoldat steht für Versehrte, die Ballerina für Schwache – Schimmelpfennig konturiert sie sympathisch, während der Junge für die Starken steht und wegen seiner Hartherzigkeit abstoßend wirken soll. Die Kinder können und sollen Partei ergreifen.
Schimmelpfennig nimmt die Herausforderung an, die darin liegt, sich zu beschränken, er kommt mit nur drei Schauspielern aus – die Reduktion auf das Allerwesentlichste, die die meisten seiner Stücke kennzeichnet, beherrscht auch dieses Stück – nicht als Mangel, sondern als Stärke: die Stücke regen die Phantasie und das produktive Einbildungskraft ihrer Zuschauer an. Schimmelpfennig erweist sich als Dramatiker als Kinderfreund, der sich seines jungen Publikums einfühlsam annimmt und die neue Generation mit einem alten Kunstmärchen bekannt macht.
Die „Kleine Meerjungfrau“ wurde mit dem Mülheimer Kindertheaterpreis 2023 ausgezeichnet. Schimmelpfennigs Märchen „sehr frei nach Hans Christian Andersen“, wie schon im Titel angemerkt, ist für Kinder ab fünf geschrieben. Die Mülheimer Jury würdigte, dass Schimmelpfennig die surreale Welt seiner Neu-Interpretation von Hans Christian Andersens Märchen „allein durch die Sprache entstehen lässt“.
Schimmelpfennigs „Meerjungfrau“ ist ein Stück über Phantasie und Einbildungskraft, vor allem aber steht im Mittelpunkt eines der ungelösten Probleme unserer Gegenwart. Zwei Jungen und ein Mädchen stehen am Rand einer Wüste an einer Küste. Es ist heiß und staubig. Die drei träumen sich aus der Ödnis und ihrem tristen, perspektivlosen Alltag heraus. Sie beschließen, aus ihrem sonnenverbrannten, elenden Dorf abzuhauen. Das Meer lockt, verspricht Freiheit und Abenteuer. Sie stellen sich vor, auf dem Grund des Meers sei eine leuchtende Stadt. Ein Ziel, das sie mithilfe der Meereshexe aus der alten Fabrik erreichen können. Mit ihr gehen sie einen Pakt ein: Sie schreiben ihre Namen in den Sand und stoßen mit ihrem viel zu kleinen Boot in unbekannte Gefilde vor. Auf ihrer Reise zur leuchtenden Stadt begegnen sie nicht nur Meeresprinzen und -prinzessinnen, sondern auch dem Meereskönig höchstselbst. Ein prunkvoller Zug zu Ehren eines königlichen Geburtstags zieht an ihnen vorbei.
Doch die Realität bricht erbarmungslos über die drei herein. Lösen sie sich auf, werden ihre in Sand geschriebenen Namen von der Flut weggewaschen?
Die Kinder, die das Stück sehen, sollen Verständnis bekommen für das Schicksal von Flüchtlingskindern – eine Facette des Bemühens von Schimmelpfennigs Wirkungsästhetik für mehr Verständnis, mehr Empathie – und ein weiterer Hinweis auf sein Engagement für die Armen, auch die armen Länder.
Eine Variation dieses Engagements verwirklicht Schimmelpfennig mit „Die Biene im Kopf“, eine Auftragsarbeit für die Kunststiftung NRW und das Consoltheater Gelsenkirchen, dort am 6. 11. 2016 in der Regie von Andrea Kramer uraufgeführt. Das Zielpublikum sind wieder Kinder ab 5 Jahre.
In den Mittelpunkt rückt Schimmelpfennig einen Jungen, vielleicht acht Jahre alt, aus prekären Verhältnissen. Das fängt schon damit an, dass ihn niemand weckt. Die Wäsche ist nicht gewaschen, kein Frühstück vorbereitet, der Vater sitzt schlafend am Küchentisch, um ihn herum geleerte Bierflaschen. Der Tag ist gespickt mit Herausforderungen, die den Jungen, obwohl er alle mit List und Phantasie besteht, dennoch mitnehmen. Am Ende des Stücks, schon halb im Traum, resümiert er seinen Tag der Bienenkönigin: „Weißt du, was heute los war?/Erst vergessen sie mich zu wecken, und dann wollen sie mich in der Schule fast plattmachen und auf dem Heimweg, auf dem Heimweg zurück von der Schule, da – /kurze Pause./ Und dann macht dir keiner was vernünftiges zu essen, und ich hätte fast die Küche in die Luft gejagt -/ und schließlich bist du im Bett, und dann kommt keiner, weil die irgendwas//im Fernsehen zu Ende sehen wollen -“ (S. 76).
Roland Schimmelpfennig will nicht nur Verständnis für das Leben des Jungen in prekären Verhältnissen bei seinen Zuschauern, jungen und älteren, wecken, er hat auch noch einen besonderen Trost für seinen Protagonisten. Die Bienenkönigin versichert ihm, er sei etwas Besonderes. Warum?, will der Junge wissen. – Eben, weil es ihm gelungen ist, allein, ohne Hilfe der Eltern, der Lehrerein oder der Kameraden, den Tag zu meistern. – Schimmelpfennig weist auf eine Lösung, die nicht utopisch ist, macht Mut für das Mögliche.
Er hat sein Stück auch als kleine Erzählung mit Illustrationen von Barbara Jung veröffentlicht, Schimmelpfennig spricht Kinder von heute an: sein Protagonist erlebt Abenteuer um Abenteuer und steigt, wie in einem Computerspiel, von „Level“ zu „Level“ auf. – Die Erzählung ist ebenso gelungen wie das Stück.
„Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum“, eine Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt, im April 2011 in der Regie von Christoph Mehler uraufgeführt, ist ein herausragendes Stück Schimmelpfennigs; nirgends sonst, außer in „Push up“, ist es ihm geglückt, so explizit Standpunkte herauszuarbeiten und gegeneinander zu stellen: die Szene ist hochdramatisch. RUDI, eine der vier Figuren, die die dramatis personae bilden, Arbeiter, die ein altes, marodes Haus (!) renovieren sollen, ergreift für einen langen Monolog das Wort: „Die Industriegesellschaft – das sind wir,/und die Industriegesellschaft zerstört die /Natur, zerstört das Klima, die schützende Hülle/der Erde,/die Industriegesellschaft wird diesen Planeten/zu Grunde richten./Mehr als eine Milliarde Menschen leben auf/diesem Planeten in diesem Augenblick von/weniger als einem Dollar pro Tag.//Wir werden nicht den Abgrund zwischen Arm und /Reich auf diesem Planeten überbrücken, niemals. … das ist die große Schwäche/der Gattung Mensch, die Fühllosigkeit.“(S. 45 f.) ULI setzt dagegen seine Ansicht, Schimmelpfennig lehnt sie an die Form des Glaubensbekenntnisses an: „Ich glaube fest an eine Zukunft,/ich glaube,/daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten/in Frieden zu leben,/der Mensch, Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.// der Mensch,//wir,//wir werden das erreichen,/wir werden das erschaffen,/was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen/ist, … (S. 49.)
Das Haus, das die vier Männer renovieren sollen, ist sonderbar, die Handwerker haben keine rechte Vorstellung, wo die Schwächen liegen, was zu tun ist, sie arbeiten ohne Plan – und noch seltsamer wird es, als ein Kollege, der verschwunden war, wieder auftaucht und von einem Zwischenreich erzählt, das stark an Shakespeare Sommernachtstraum erinnert:
„Drei Handwerker.
– Wer sagt, daß da kein Träger drin ist –
– Wieso Träger – ich seh keinen Träger –
– Kann aber einer drin sein.
– Wer sagt, daß das keine tragende Wand ist –
– Das kann keine tragende Wand sein –
– Und wenn –
– Wenn? Wenn, dann –
– Dann was?
– Ja – dann –
– Im Plan ist nichts –
– Im Plan, ja, aber der Plan – der Plan ist dafür nicht gemacht.
– Der Plan ist der Plan.
Sieht auf den Plan.
– Aber wer sagt, daß der Plan stimmt –
Kurze Pause.
– Wer sagt, daß der Plan nicht stimmt –
Den Plan in der Hand, sehen sich die drei abwechselnd ratlos an.“
Ob die Vier das Haus in Stand setzen können? Zweifel sind geboten – weniger Zweifel, dass das Haus unsere Republik bedeuten könnte/soll, und die Männer uns repräsentieren. Gewürzt wird die souverän erzählte Fabel mit Sex und einem beneidenswert potenten Arbeiter, der jeden Orgasmus mit einen Strich an die Wand notiert: imponierende neun! insgesamt.
Bei den beiden oben zitierten Monologen arbeitet Schimmelpfennig noch klarer als sonst heraus, welche Sprache er wählt und warum. Oberstes Ziel ist die Verständlichkeit. Er vermeidet Worte, die dem elaborierten Code zuzurechnen wären, ohne indes je in einen restringierten Code zu verfallen. Die Worte kommen aus der Mitte der Sprache, nichts klingt kompliziert, unzugänglich oder gar hermetisch. Im Schriftbild werden die Dialoge als Verse abgebildet, auf einmal gibt es einen Bruch – ganz offensichtlich bei „der Mensch“ und „wir“.
Spricht und/oder liest der Schauspieler den Text: „Ich glaube fest an eine Zukunft,/ich glaube,/daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten/in Frieden zu leben,/der Mensch, Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.// der Mensch,//wir,//wir werden das erreichen,/wir werden das erschaffen,/was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen/ist“ fortlaufend, ohne Brüche: „Ich glaube fest an eine Zukunft, ich glaube, daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten in Frieden zu leben, der Mensch, (Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.) der Mensch, wir, wir werden das erreichen, wir werden das erschaffen,/ was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen ist“, so versinkt das „wir“ im Gesamten, verliert zumindest an Bedeutung – die Möglichkeit, das „wir“ in seiner schwerwiegenden und problematischen Bedeutung zu erfassen, wird geringer. Steht es indessen isoliert auf einer Zeile, kann das „wir“ leichter problematisiert werden. Wer ist gemeint? Das Handwerkerkollektiv auf der Bühne, das Publikum im Zuschauerraum, das Ensemble und die Zuschauer gemeinsam – oder vielleicht ganz Deutschland? Ist es überhaupt möglich, von „wir“ zu sprechen – oder ist schon der Zusammenhalt der fiktiven Handwerker so gering, dass von „wir“ keine Rede sein kann? Schimmelpfennig spürt der Bedeutungslast dieses einzelnen Wortes nach und lädt sein Publikum ein, ihm zu folgen. Bei „wir“ verstärkt er noch den angestrebten Effekt, „wir“ steht nicht nur allein auf einer Zeile, „wir“ bildet eine ganze Strophe. Die künstlerische Absicht wie die differenzierte Umsetzung sind überzeugend:
Die Brüche sind bewusst gesetzt, am Ende, noch stärker am Anfang der Zeile steht das als wichtig hervorgehobene Wort. Schimmelpfennig verzichtet zugunsten der Verständlichkeit auf Metrum und Endreim, Versprunk ist ihm fremd, die Sprache ist solide, gediegen, weil jedes Wort gewogen wird. Auch, wenn Schimmelpfennig zauberische Welten entwirft, ist jedes Wort, ist jeder Satz verständlich. Der übersichtliche Alltag geht im Arrangement, in der Erfindung, im Phantasma („Arabische Nacht“) verloren. Diese Sprache hat ihren Reiz als Gegenentwurf zur Klassik. Wie oft verleidet die komplexe, meisterhafte Sprache der Klassiker Schülern das Lesen – sie vermögen nicht zu folgen – und bei Aufführungen ist der Verlust des Verständnisses häufig zu beobachten. Dem wirkt Schimmelpfennig entschieden entgegen, sein Ideal der Klarheit ist eine Entscheidung für ein volkstümliches Theater, das niemanden zurücklässt, nie Bildungsbarrieren aufbaut, sie im Gegenteil vermeidet. Die Ellipse ist Schimmelpfennigs bevorzugtes Stilmittel beim Dialog. In diesem Sinn ist Schimmelpfennigs Theater Volkstheater.
Volkstheater ist auch „Das fliegende Kind“, im Wiener Burgtheater am 4. 2. 2012 in der Regie des Autors uraufgeführt. Die Tragödie ist kein Kinderstück, wohl aber steht ein Kind im Mittelpunkt:
„Es war einmal ein Mann,/der fuhr sein eigenes Kind tot“, sagen „DIE DREI FRAUEN“ am Schluss des Epilogs, das Schauspiel resümierend. Im (fast schon regelmäßig gebauten) Fünfakter spürt Schimmelpfennig der Vorgeschichte des Unfalls, bei dem der kleine Junge zu Tode kommt, nach.
Der Unfall ereignet sich im November, am Martinstag. Eltern, ihre Kinder und Lehrerinnen treffen sich am Ufer des Flusses für den traditionellen Laternenumzug. Als es dunkel geworden ist, werden die Lampions angezündet, alle gehen am Strom entlang, sorgfältig überwacht; die Kinder werden immer wieder ermahnt, nicht zurückzubleiben. Ein kleiner Junge umfasst ein Spielzeugauto in der Manteltasche, er freut sich, er hat es vom Vater stibizt. Er verliert das Auto und geht, trotz der Mahnung bei den anderen zu bleiben, unbeachtet von seinen Lehrerinnen und seiner Mutter zurück, um das Spielzeug zu suchen. Er geht über die Straße, auf der das kleine Auto liegt. Dabei geschieht das tödliche Unglück.
Die Mutter war überfordert und abgelenkt. Sie trägt das weinende Schwesterchen des Jungen auf dem Arm, während sie an einen Mann denkt, den sie beim Gottesdienst gesehen hat – Anfang eines Flirts. Sie ist mit ihrer Ehe unzufrieden. Ihr Mann belastet sie mit der Erziehung der Kinder, ist nie da. An diesem Abend will er zum Vortrag einer schönen Südamerikanerin – er erhofft sich ein Schäferstündchen. Seine Frau ist nicht ohne Grund argwöhnisch.
Schimmelpfennig fügt noch weitere Stränge hinzu, die zum Unfall führen – es gibt nicht einen, es gibt viele Gründe. Ist es nicht unverantwortlich, mit Kindern die vielbefahrene Straße einer Riesenstadt an einem dunklen Abend im November zu überqueren?
Den größten Anteil an der Schuld am Unfall hat der Vater. Er hat sich gerade eben einen funkelnagelneuen (schwarzen!) Wagen gekauft, ist mit ihm zur Arbeit gefahren, und startet ihn gerade erst zum zweiten Mal, um nach der Arbeit zum Vortrag der verehrten südamerikanischen Gelehrten zu fahren, die er verführen möchte. Er ist noch nicht mit dem neuen Wagen vertraut, weiß nicht, wie empfindlich er reagiert, wenn er Gas gibt. Schlimmer: er weiß nicht, wo der Schalter für die Scheinwerfer ist und fährt einen großen Teil der Strecke ohne Licht; als er startet, fängt das Autoradio an zu brüllen – der Fahrer weiß nicht, wo er es leiser oder ausstellen kann. Dann klingelt das Handy, und als er es sucht, um den Anruf anzunehmen, fällt ihm das Gerät auf den Wagenboden. Er fährt weiter, während er das Handy sucht – vermutlich in diesen Momenten, abgelenkt, überfährt er seinen kleinen Jungen.
Schimmelpfennig begleitet den Hauptstrang mit mehreren Nebenhandlungen: ein Mann arbeitet im Turm der Kirche – er trifft den Jungen, der eben gestorben ist, auf der Brüstung und versucht, ihn ins Leben zurück zu locken – vergebens – der Junge fliegt – darauf bezieht sich der Titel.
Eine andere Nebenhandlung vertieft das Hauptmotiv, den Tod. Unter der Straße arbeiten Männer unter der Straße. Einer erinnert an den Tunnel im schweizerischen CERN, in dem das Aufeinanderprallen von Elektronen untersucht wird. Die DREI MÄNNER erklären: „Und was passiert dann,/wenn in dem Tunnel/die winzigen Teile aufeinanderprallen-/dann zerspringen sie/und verschmelzen/und dann entsteht/ein schwarzes Loch,/in dem alles verschwindet,/ …“ (S. 88)
Charakteristisch für die szenische Präsentation ist die Trennung von Ereignis und Beschreibung. Das Ereignis wird nicht sichtbar gemacht, die DREI MÄNNER skizzieren es nur – es ist Aufgabe des Zuschauers und der Zuschauerin, sich das „schwarze Loch“ vorzustellen, sich der kosmischen Dimension des Todes, noch dazu des Todes eines Kindes, zu vergegenwärtigen, eines Todes, der keineswegs notwendig passiert, sondern Resultat vieler Fahrlässigkeiten ist. Diese Fahrlässigkeiten münden in ihrem Ergebnis in den Tod.
Die Wirkabsicht des Stückes wird deutlich: sei aufmerksam! Denkt daran, was ihr wisst, wie gefährlich zum Beispiel ein (tonnenschweres) Auto ist, wie notwendig, auf Kinder aufzupassen, sich nicht ablenken zu lassen.
Die Schilderung ist der unmittelbaren, gegenwärtigen Präsentation des Vorgangs auf der Bühne weit überlegen – das beweist und nutzt Schimmelpfennig immer wieder. „Das fliegende Kind“ fliegt in dem Moment, in dem es sich vom Kirchturm abstößt. EINE FRAU UM DIE SECHZIG bekommt das Wort: „Und dann stößt sich das Kind ab, und es schwebt/tatsächlich in der Luft – der Wind treibt es ein bißchen weiter./Siehst Du? Ruft das Kind. Es geht! Es geht! Ich habe es dir gesagt!/Und der Mann in dem Glockenturm lacht schief. Ja -/ das Kind hängt am Nachthimmel in der Luft, die/Arme ausgestreckt, die Beine, der leichte/Körper. Die Zeit steht still.“ (S. 72) – Eher eine Szene für einen Film mit Tricks, im Theater schwer zu realisieren mit Seilen vom Schnürboden. Es geht aber um die Vorstellung beim Publikum – und um die zu evozieren, reichen Worte völlig aus. Die Konzentration bleibt so beim Vorgang und wird von der Realisierung nicht abgelenkt.
„Die Zeit steht still“. Das ist tatsächlich nicht herzustellen – nur in der Vorstellung, der Phantasie. Aber warum den Lauf der Zeit anhalten? Um klar zu machen, welche Bedeutung der Unterschied von Leben und Tod hat.
Schimmelpfennig gelingt es, innezuhalten. Für den Vorgang, für sein Publikum, um den Wert des Lebens zu unterstreichen, um klar zu machen, welches Gewicht der Leichtsinn hat, welche Folgen Fahrlässigkeiten nach sich ziehen.
Schimmelpfennig knüpft an ästhetische Strategien an, die Virgina Woolf ersonnen hat: Er spürt den inneren Vorgängen des menschlichen Bewusstseins nach. Die Handlung verliert gegenüber der inneren Realität der Gestalten an Gewicht. Neben die Vielfalt der äußeren Ereignisse treten subjektiv bedeutsame Momente. Mit Hilfe von inneren Monologen wird sowohl die Gleichzeitig von Erleben, Erinnern und Phantasieren dargestellt als auch die Diskrepanz zwischen objektivem Zeitablauf und subjektivem Zeitempfinden. Die komplexe Zeitbehandlung verleiht der künstlerischen Strategie Souveränität, Brillanz.
Bis in der Art des Notats reicht diese Absicht Schimmelpfennigs, gegen die Oberflächlichkeit anzugehen: Manche Seite ist ganz frei gelassen, um zu unterstreichen, dass nun eine Szene abgeschlossen ist und eine neue beginnt. Zwischen den Zeilen ist Raum, die Wort sind wie in Versen notiert, jedes Wort hat Bedeutsamkeit/hohe Bedeutsamkeit.// Jeder Aspekt. Es ist schwer, darüber hinweg zu gleiten – für Regisseure, für Schauspieler und für Zuschauer.
Gut anderthalb Jahre später, am 28. Oktober 2013, wurde „Hier bin ich“ in Kopenhagen (in der Regie von Jakob Schokking) uraufgeführt; Kopenhagen war nicht zufällig Ort der Uraufführung, das Schauspiel dreht sich um Søren Kierkegaard – das Holland House hatte Schimmelpfennig einen Stückauftrag gegeben, es erinnerte an den 250. Geburtstag des dänischen Philosophen. Schimmelpfennig fügt dem Titel erläuternd hinzu „nach Motiven von Sören Kierkegaard“.
In den Mittelpunkt rückt Schimmelpfennig die Geschichte von einem Zeitgenossen, der mit seinem Sohn zu einem Spaziergang aufbricht. Gleich in der 1. Szene wird die Exposition genau umrissen: „DER JUNGE – Mich wollte ein Mann töten./Kurze Pause./Er wollte mich schächten wie ein Tier./Der Mann sagte, so sei der Befehl Gottes.“ (S. 5.) Der Hinweis auf die alttestamentarische Episode von Abraham und Isaak erweist sich als glückliche Idee: Einerseits liegt sie Kierkegaards „Furcht und Zittern“ (1843) zu Grunde, andererseits lässt sie Raum für die Distanz des Autors, des Regisseurs, der Darsteller zu einer Religion, in der Gott einen Anhänger derart prüft, weist auf unseren zeitlichen Abstand zum Alten Testament hin wie auf die zeitliche Distanz zu Kierkegaard, der gerade diese Episode gutheißt und verteidigt – und schafft so Raum für kritische Distanz der Zuschauer. Heutzutage sich vorzustellen, dass ein Vater mit seinem Sohn und einem Kanister Benzin in einen morgendlichen Park spaziert, um den Sohn zur Ehre Gottes zu verbrennen – ein ebenso verstörender wie provozierender Gedanke.
Die Szenen – insgesamt 300!, luftig gebaut – bestehen häufig nur aus einem Satz mit wenigen Worten. Sie tippen Probleme und Fragen an, die das Wesen der Religion betreffen – aber auch Fragen zum Leben Kierkegaards, sein problematisches Verhältnis zu seinem Vater – und regen das Nachdenken über die angedeuteten Thesen und Sachverhalte an. Schimmelpfennigs Methode der Reduktion und Aussparung treibt er hier zu neuen Höhepunkten. Immer wieder gelingt es ihm, zentrale Probleme in nur wenigen Worten nicht nur anzudeuten, sondern auch gleichzeitig zu umreißen – die drei Worte des Titels, die immer wieder auftauchen, immer wieder aufgenommen werden, sind das beste Beispiel: „Hier bin ich“.
Zum Schluss ziehen DER MANN, aber auch Schimmelpfennig Bilanz: „Je öfter man versucht, desto mehr begreift man, wie/unmöglich es ist zu sagen:/Hier bin ich./Denn den Satz auszusprechen setzt voraus, daß man weiß, wo man ist/und wer man ist. Was man ist. Der Mensch./Und das begreifen wir nicht./Und deshalb war ich nicht ich, als ich sagte: Hier bin ich./Und doch:/ Ich war ich: Aber ich weiß nicht, wer ich war, als ich sagte:/ Hier bin ich.// ENDE“( S. 69f.)
Ein wahrhaft philosophisches Ende eines eminent philosophischen Stücks. Um an einen Philosophen und sein Werk zu erinnern, Kierkegaards Fragestellungen gerecht zu werden wie seiner Fragwürdigkeit.
„Hier bin ich“ gehört zu Schimmelpfennigs anspruchsvollsten, komplexesten und geglücktesten Stücken.
Auf die Uraufführung in Dänemark folgte nach gut einem Jahr die nächste auf Kuba – Schimmelpfennig in Skandinavien wie in der Karibik! „Die Straße der Ameisen“ wurde von der Compañia del Cuartel in La Habanna, am 26. 10. 2014 in der Regie Schimmelpfennigs uraufgeführt. (Die Deutschsprachige Erstaufführun folgte knapp drei Jahre später am Theater Kiel, am 1. 6. 2017 in der Regie von Ulrike Maack.)
In der „Straße der Ameisen“ beschäftigt sich Roland Schimmelpfennig mit einem seiner ureigenen Thema, mit der Kraft der Phantasie. Vier Figuren: die Tochter, die Mutter, die Großmutter und der Freund der Tochter führen ein Alltagsleben in einem Land, in dem es nicht üppig, ja, wohl ein wenig karg zugeht. Da Schimmelpfennig vorab bemerkt, dass er den Text in „La Habana/Berlin/Hamburg“ niedergeschrieben hat und das Schauspiel in Havanna uraufgeführt wurde, liegt es nahe anzunehmen, dass „Die Straße der Ameisen“ auf Kuba, in der Hauptstadt spielt.
Der Großvater wartet schon seit Jahrzehnten auf ein Lebenszeichen seines Bruders, der eines Tages aus heiterem Himmel spurlos verschwunden war. Der Großvater sitzt an der Straße und schaut – vergebens. Bis eines Tages ein Paket eintrifft. Die Erwartungen sind groß – aber werden enttäuscht. Es ist nur ein Glas darin, ein Löffel, ein alter Kalender …
Aber die Einbildungskraft Schimmelpfennings, verbunden mit seiner Fabulierlust, verwandeln, ja verzaubern die alltäglichen Gegenstände: „DIE GROSSMUTTER./Kurze Pause/Wir hatten das Glas, das nie leer wurde./Kurze Pause./Wir hatten den Löffel der 1000 Geschmäcker./Kurze Pause/ Wir hatten den Kalender der Vergangenheit/ Kurze Pause./Wir hatten den romantischen Kugelschreiber.“ (S. 59) – Den Familienmitgliedern ist klar, dass sie diese Geheimnisse, die den scheinbar unscheinbaren Dingen innewohnen, für sich behalten müssen, was sie sich auch versprechen – aber offenbar nicht halten. Das Glas des Großvaters, das nie leer wird, findet viele Freunde – auch zahlende. Der Löffel der Großmutter ebenso – und im Kalender der Vergangenheit blättern viele gern und erinnern sich, wenn man die Seufzer recht deutet, die Schimmelpfennig den Schauspielern vorschreibt, an schöne, vielleicht sogar erotische Ereignisse. Der romantische Kugelschreiber ist mutmaßlich am interessantesten, weil er dem Freund der Tochter zu Gedichten verhilft, die zunächst Nachbarn gefallen, dann deren Freundinnen – und dem Freund schließlich zu Ruhm verhelfen. Im Freund dürfte Schimmelpfennig eigene Erfahrungen verarbeitet haben – höchst ironisch verarbeitet. – Aber nach erster Aufmerksamkeit im kleinen Kreis wird der Erfolg übermächtig – der Freund kann Gedichte verkaufen, erringt Bekanntheit, Ruhm – und verändert sich – wie die ganze Familie. Auf den Aufstieg folgt der Absturz.
Ironie, Sarkasmus, Fabulierlust und eine schwer zu überbietende Lakonie, die dem Einfühlungsvermögen des Publikums Raum bieten, fließen so zusammen zu dem Rat, angesichts der Kargheit der Verhältnisse nicht den Mut oder gar die Lebenslust zu verlieren, sondern sich auf dem Flügeln der Phantasie über die Misere der Realität zu erheben und so die Wirksamkeit des Elends zu begrenzen. Aber, und darauf weist der rasante Abstieg am Ende, auf Dauer könnte sich das Konzept als nicht tragfähig erweisen. Die kubanischen Zuschauer*innen werden wohl einen erfahrungsgesättigten Kommentar dazu gegeben haben, nachdem sie die Inszenierung der Compañia del Cuartel, die die Uraufführung in Havanna übernommen hatte, gesehen haben. Schimmelpfennig hat die Kraft der Phantasie zu stark gewichtet, indes: dies ist ein gutes Mittel, sich nicht allzu sehr niederdrücken zu lassen, in Depression oder gar Lähmung zu verfallen.
Eines der überzeugenden Schauspiele Schimmelpfennigs, weil das Konzept, das Lebenskonzept überzeugt – und auch das ästhetische: nur kurze Sätze, die richtigen, wohl gewogenen Worte; nur wenige Schauspieler werden benötigt, um die Phantasie zu entbinden – ein Realismus der Möglichkeiten. Und ein Beispiel für unsichtbares Theater nach dem Konzept von Augusto Boal. Das Stück bedarf keiner Bühne, es kann in jeder Scheune, auf jedem staubigen Marktplatz aufgeführt werden – wenn Gesetzeshüter kommen, verschwinden die Spieler rasch und unauffindbar. – Das Anknüpfen Schimmelpfennigs an einen überragenden südamerikanischen revolutionären Theatertheoretiker wirkt wie eine Verbeugung vor diesem Weltteil, aber ist auch ganz praktisch ein Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit – Kopenhagen, Havanna, Kiel…
… und Mannheim. „Das schwarze Wasser“, eine Auftragsarbeit, wurde am 10. 1. 2015 in der Regie Burkhard C. Kosminskis uraufgeführt. Friedrich Schiller prangert die Unmenschlichkeit des ständischen Systems in „Kabale und Liebe“ mit Hilfe einer Liebesgeschichte an – Roland Schimmelpfennig nutz ebenfalls eine Liebesgeschichte, um Heucheleien der heutigen Gesellschaft zu entlarven. Der Zusammenhang zwischen Schiller und Schimmelpfennig wird unterstrichen durch die Uraufführung des „Schwarzen Wassers“ am Nationaltheater Mannheim, Schillers erste Bühne, die „Kabale und Liebe“, trotz schwerer Eingriffe, zu einem denkwürdigen und bis heute unvergessenen Skandal in der deutschen Bühnengeschichte machte.
„Eine Gruppe von Männern und Frauen“ wie es im Personenverzeichnis des „Schwarzen Wassers“ heißt, trägt die Handlung: neun junge Leute genießen den Sommer und übersteigen nachts den Zaun zum Freibad, wo sie im „schwarzen Wasser“ schwimmen – Anfang eines erotischen Abenteuers, das Frank und Leyla im Lauf der Nacht ausschöpfen.
Zwanzig Jahre später treffen sich die beiden an einem regnerischen Abend wieder – Frank will nach Hause, um den 75. Geburtstag seines Vaters zu feiern, eines berühmten und allseits geschätzten Juristen, der sich im Innenministerium einen Namen gemacht hat. Frank selbst soll nach erfolgreicher Karriere am nächsten Tag ins Amt des Ministers eingeführt werden. Sein Herkommen aus bester Familie, seine fundierte, konservative Bildung: Latein und Griechisch, Englisch, Französisch, Geschichte – bilden die solide Grundlage für seine Laufbahn. Das Herkommen von Franks Vater, das Innenministerium weisen darauf, dass hier eine Politik des Generationen überdauernden Beharrens entworfen wurde, die mit durchschlagendem Erfolg gekrönt wird.
Leyla, der Frank ein wunderbares Liebesgedicht gewidmet und geschenkt hat, ist Kassiererin. Der Klassenunterschied ist für das Drama (wie für „Kabale und Liebe“) konstitutiv.
Auch bei den anderen jungen Leute bilden sich Paare – für einen Moment eröffnet sich die die Möglichkeit der Gleichheit: „Sie tauchen,/geräuschlos,/in die Dunkelheit,/sie tauchen/nebeneinander miteinander/in eine Welt/ohne Sprache,/ohne Vergangenheit und Zukunft,/und ohne Rembrandt/und ohne Barbarossa,/ohne Nachtwächter und ohne Zaun,/ohne Herkunft, Bankkonto, Beruf des Vaters, Bildung,/Satellitenschlüssel, Jesus und Mohammed/in eine Welt ohne Anwälte,/Mietwucher,/Schnellimbisse, Großbäckereien, Fleischimperien,/und ohne Schulabschlüsse,//in eine Welt/in der nichts zählt/als die Zeit/die dir zum Atemholen bleibt …“ (S, 58. f.) Der Nachwächter denkt, diese Nacht sei „eine Nacht im Paradies,/und wir sind alle Gottes Kinder.“ (S. 62 f.) – Doch Gottes Kinder werden aus dem Paradies vertrieben, die Pforten schließen sich. – 20 Jahre nach diesem Moment trifft, wie gesagt, Frank an dem Abend vor seiner Amtseinführung als Minister Leyla zufällig auf der Straße; es regnet. Die beiden erkennen sich und Leyla bricht weinend zusammen. Frank hebt sie auf und begleitet sie durch den Regen nach Hause – er wird pitschnass. Er vergisst die Zeit und kehrt zu spät nach Haus zurück, wo alle auf ihn warten, um den Geburtstag seines Vaters zu feiern – Franks Nase blutet. Hat Leyla ihm einen Hieb verpasst? Zumindest hat sie ihm sein Liebesgedicht, das er ihr geschrieben hatte, zurückgegeben: „In deinen Augen liegt//der Himmel, in den wir tauchten,/in jener Nacht//Und ohne dich/bleibt nichts davon zurück,/und ohne dich/wird nichts davon bleiben, nichts als Dunkel//bleibt nichts zurück als Dunkel.“ S. 132f.)
Mit diesen Versen endet das Schauspiel, „Dunkel“ ist das letzte Wort, und auf der Bühne wird, wenn die Scheinwerfer erlöschen, ebenfalls nur Dunkel bleiben – Dunkel, das zeigt, wie die Hoffnung auf Veränderung, auf Verbesserung sich in nichts auflöst. Dunkel: die Verhältnisse, dunkel die Perspektive.
„Das schwarze Wasser“ ist ein politisches Stück, fast so politisch wie Schimmelpfennigs „Goldener Drachen“, eine Anklage der deutschen Gegenwart – Frank ist nicht umsonst der Protagonist. Schimmelpfennig zeichnet einen Mann, der das Ideal seiner Jugend verrät, um Minister zu werden.
Schimmelpfennig tupft in gewohnt gekonnter Manier die Geschichten der Paare, die sich am paradiesischen Abend gebildet hatten; überall bleibt die Realität hinter den Möglichkeiten zurück. Die Paare variieren das Thema, das Frank und Leyla vorgeben. Die Bildung der herrschenden Klasse steht nicht im Dienst der Menschlichkeit, der Gleichheit, sondern zementiert die herrschenden Verhältnisse, die Vorrechte der besseren Leute. Wenn Schimmelpfennig im „Goldenen Drachen“ Partei für den Sans Papiers aus China ergreift, so greift er im „schwarzen Wasser“ vor allem die Unterprivilegierung von Türken an. Er macht deutlich, dass diese Hintanstellung überall zu erkennen ist, sie niemand übersehen kann: während Frank in einem Haus groß wird, das viel Platz bietet, in einem bevorzugten Viertel liegt, umgeben von Gärten, wächst Leyla in beengten Verhältnissen auf. Beide wohnen in einer Stadt – in getrennten Welten.
Roland Schimmelpfennig zeichnet im „schwarzen Wasser“ die Bundesrepublik als Klassengesellschaft. Die Herrschenden betonieren sie nicht mit Gewalt – schlimmer: obwohl es Möglichkeiten gibt, ganz konkrete Möglichkeiten, die Klassenschranken zu überwinden, bleiben diese Möglichkeiten ungenutzt. Herzensenge und Engstirnigkeit festigen Mauern über die Generationen. Schimmelpfennigs Theater will das bewusst machen, Herzensenge, Engstirnigkeit und damit die Klassengesellschaft überwinden. Hier erweist sich Schimmelpfennig einmal mehr als engagierter Dramatiker, seine Dramaturgie als emanzipatorisch.
„An und Aus“, eineAuftragsarbeit für das New National Theatre, Tokyo wurde dort am 4.6.2013 in der Regie von Keiko Myata uraufgeführt. (Die deutschsprachige Erstaufführung folgte knapp drei Jahre später, am 9.1.2016 im Nationaltheater Mannheim, Regie führte wieder Burkhard C. Kosminski.)
„An und Aus“ ist eine dahin getupfte Tragödie, die um die Katastrophe von Fukushima kreist: Das Licht, das sonst ständig und sicher scheint, erlischt, das Radio läuft – auf einmal wird es unterbrochen – warum?
Im Mittelpunkt der kaum angedeuteten Handlung steht ein junger Mann, der ein Hotel betreibt; in den wenigen Zimmern treffen sich Liebespaare zu Schäferstündchen. Schimmelpfennig konzentriert die ersten Szenen des Zweiakters auf die diskret angedeuteten Liebesbeziehungen, im zweiten Teil rückt er rätselhafte, märchen- und zauberhafte Veränderungen in den Mittelpunkt: eine Frau bekommt zwei Köpfe, die einander erst betrachten und dann zerfleischen, ein Mann verwandelt sich in einen Fisch. Wie in der „Arabischen Nacht“ erscheinen die Verwandlungen träumerisch, in „An und Aus“ dominieren Alpträume. Immer wieder nimmt der junge Mann des Hotels, der auch als Portier fungiert, Bezug auf ein bekanntes japanisches Bild, dessen Kopie hinter ihm hängt.
Dieses welt“berühmte Bild“, Hokusais „Große Woge“, ist ein wichtiger, oft wiederholter Schlüssel zum Verständnis – ein Hinweis auf die Flutwelle, in deren Folge sich katastrophale Unfälle und schwere Störfälle im japanischen Kernkraftwerk Fukushima ereigneten. Das Bild friert einen Moment ein, die Welle auf ihrem Kamm, der bedrohlichste Augenblick, im Gemälde verewigt. Sie zerstört das Leben der Liebenden, auch des jungen Mannes, der das Hotel betreibt, und seiner Freundin.
Die im Text angedeuteten Alpträume erlauben dem Regisseur und dem Ensemble große Freiheiten, aber auch dem Publikum sich vorzustellen, was den Betroffenen geschehen sein könnte. Das Stück ist eine Warnung vor der Atomkraft – eine Anklage, die nicht mit Furor zu wirken versucht, sondern behutsam die Imaginationskraft des Publikums zu entbinden versucht. Die Zuschauer*innen können sich auf die Katastrophe konzentrieren, sie werden von der Aufführung angeregt, aber nicht gefesselt – und können erkennen, warum der Unfall so gravierend war, dass er auch in Deutschland zu einem Umdenken geführt hat. Hier bekommt die japanisch-deutsche Theater-Zusammenarbeit ihre überzeugende Begründung.
Eines der hervorstechendsten Merkmale von Schimmelpfennigs Stil, die Reduktion, die Konzentration auf das absolut Notwendige, wird schon im extrem verknappten Titel „Ein und Aus“ deutlich. Die drei Worte sind auf der Bühne leicht umzusetzen: Wenn zunächst das Licht an ist und dann ausgeht, ist das Erlöschen ein Zeichen für den Unfall. Das Kraftwerk fällt aus, es kann keinen Strom liefern. Kürzer und knapper, aber auch prägnanter kann auf den Unfall kaum hingewiesen werden. Das Bühnenpersonal nimmt zwar den Stromausfall zur Kenntnis, weiß aber nichts über die Ursache – und ahnt noch nichts von den katastrophalen Folgen für sie. Ebenso wenig das Publikum. Erst am Ende kann es erkennen, was geschehen ist – das Stück, seine Dramaturgie, sensibilisiert die Wahrnehmung der Zuschauer*innen – eine der zentralen Wirkungsabsichten Schimmelpfennigs.
Seine internationale Reputation wird ein weiteres Mal unterstrichen, wenn er vom führenden japanischen Schauspiel aus dem fernen Tokyo einen Stückauftrag erhält – und sich mit einem Stück bedankt, das ein gewichtiges japanisches Thema behandelt, ein japanisches Thema, das für die ganze Welt bedeutsam ist und insbesondere für Deutschland gravierende politische Folgen hatte.
„An und aus“ ist, darauf weist schon der Titel hin, ein minimalistisches Stück. Die Szenen des Zweiakters sind kurz gehalten, der Dialog besteht aus einfachen, knappen Sätzen. Wichtiger noch als das Gesprochene ist die Hemmung der Figuren zu sprechen, ein Hinweis darauf, dass bedeutsamer als das gesprochene Wort das Unausgesprochene ist: Herausforderungen für Schauspieler.
SPAM, Fünfzig Tage, eine Auftragsarbeit für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, wurde dort am 24.5.2014 uraufgeführt, Regie führte Schimmelpfennig. Die Erfahrung als Regisseur förderte die Arbeit als Dramatiker – er konnte seine Stücke geschmeidiger den Erfordernissen der Bühne anpassen.
Das Schauspiel ist rätselhafter als andere Stücke. Skizzenhaft umreißt Schimmelpfennig ein Grubenunglück in Afrika – erst auf starken Druck hin wird nach einem Verunglückten gegraben – und es kommen immer mehr Tote zum Vorschein. Die Grube ist nicht gegen Unfälle gesichert, die nächsten Toten sind absehbar. – Unverbunden daneben sieht der Zuschauer Menschen in Deutschland in einem ICE, die nach Hause wollen und telefonieren oder SMS schicken – banalste Botschaften, völlig unnötig, überflüssig.
Eine Verbindung zwischen den Themen könnte das Wort „Koltan“ herstellen – Coltan, eine der seltenen Erden, die benötigt werden, um Handys herzustellen. Der Zuschauer kann einen Zusammenhang konstruieren von der Gedankenlosigkeit, der Herzensenge der Europäer gegenüber dem Unglück ihrer Zeitgenossen in Afrika, die die Voraussetzung schaffen für ihre überflüssigen Telefonate – daher auch der Titel: „SPAM“.
Die Überzeugungskraft der Anklage ist beeinträchtigt, weil es keinen direkten Zusammenhang, eine Schuld der Telefonierenden am Unglück der afrikanischen Grubenarbeiter gibt – da wären ja noch der Bergwerksbetreiber, und die Leute, die Handel treiben, die an den Handys verdienen.
Allerdings evoziert Schimmelpfennigs dramatisches Arrangement den völligen Mangel an Empathie, die Gleichgültigkeit gegen die terms of trade, den Zusammenhang zwischen Erster und Dritter Welt – eine Gleichgültigkeit, die Schimmelpfennig auch in anderen Dramen thematisiert und anprangert.
Die Vermutung, dass Schimmelpfennig den Komplex Erste und Dritte Welt thematisieren wollte, stützt auch seine Notiz: „Berlin/LaHabana/2012/2013“ vor dem Personenverzeichnis. Trotz des Engagements: Eines der schwächeren Stücke Schimmelpfennings.
Ein weiterer Hinweis auf seine internationale Vernetzung ist „Wintersonnenwende“, eine Auftragsarbeit für das Royal Dramatic Theatre in Stockholm; dort wurde das Schauspiel am 25.01.2015 in der Regie von Staffan Valdemar Holm uraufgeführt. Nicht einmal ein Jahr später inszenierte Jan Bosse die deutschsprachige Erstaufführung am Deutschen Theater Berlin.
„Wintersonnenwende“ beginnt am 23. Dezember, also am kürzesten Tag des Jahres, am Tag vor dem Heiligen Abend in Stockholm. Schauplatz ist die Villa einer wohlhabenden nicht mehr ganz jungen Familie; der Hausherr ist ein angesehener Intellektueller, viele Bücher zeugen von seiner Produktivität und seinem (auch finanziellen) Erfolg. Seine Frau ist Filmemacherin; sie dreht Problemfilme, die sich nicht ans große Publikum wenden; ihre kleine Tochter, naiv, liebenswürdig, ein heiteres Bild unentfremdeten Lebens, freut sich mächtig auf Weihnachten.
Unter der Oberfläche der harmonischen Familie – wie könnte es anders sein im Land Strindbergs – lauern Abgründe. Corinna, die Mutter Bettinas, ist zu Besuch gekommen, und Bettina, die ihre Mutter liebt, aber vor allem auch hasst, macht ihrem Mann, Albert, schwere Vorwürfe, dass er der Schwieger/Mutter nicht entschieden(er) entgegentritt, wenn sie mal wieder ihrer Neigung zu Übergriffen nachgibt. Schon die Spannungen in der Exposition sind komplex und unterhaltsam. Die Frage steht im Raum: Wer siegt, die alte oder die junge Generation?
Die Handlung setzt ein, als es klingelt. Rudolph steht vor der Tür und fragt nach Corinna. Die hat den älteren, kultivierten und, wie sich herausstellt, höchst charmanten Herrn im Zug kennengelernt und gleich eingeladen, sie zu besuchen. Bettina ist außer sich über diesen Übergriff ihrer Mutter – aber nur in der Küche, hinter verschlossenen Türen, ihrem Mann gegenüber. Derweil flirtet Rudolph mit der nur allzu bereiten Corinna und spielt glänzend Klavier, mit Vorliebe Bach und Chopin. Schimmelpfennig zeichnet zunächst Rudolph als konservativ, fügt dann den Argwohn erregenden Zug hinzu, er sei ein alter Nazi – und stattet ihn mit überlegener Durchsetzungskraft aus: als Albert, ein Neurastheniker, geschwächt von den ewigen Anwürfen seiner Frau und massivem Medikamentenmissbrauch, sich endlich ermannt, und Rudolph rauswirft – bleibt der Rauswurf ohne Folgen.
Wie so oft komprimiert Schimmelpfennig die Quintessenz seines Schauspiels im letzten Bild: „Rudolph setzt sich ans Klavier./Er spielt Bach, Prelude Nr. 1, C-Dur. /Das Wohltemperierte Klavier, Buch 1./Eine kalte Winternacht./Vor den großen Fenstern der Wohnung schneit es weiter./Der Weihnachtsbaum./Die leuchtenden Flammen der Kerzen./…“ (S. 177.f.)
Rudolph, der die Rechten, Altnazis, Vertreter einer verlogenen harmoniesüchtigen Kulturtheorie repräsentiert, ist es gelungen, den Widerstand gegen ihn und seinen reaktionären Standpunkt zu überwinden und ins Innere der liberalen Familie einzudringen. Der Schein des Weihnachtsbaums, der Kerzen trügt. Nach der „Wintersonnenwende“ werden die Tage wieder länger. Die stark ausgeprägte, eine Fülle von Konflikten andeutende Handlung legt nahe, dass Schimmelpfennig die Tage der Rechten meint, die in winterlich unbehaglichen Tagen unbehaust überwintern mussten. Diese Epoche geht zu Ende. „Wintersonnenwende“ ist, so verstanden, ein eminent politischer Titel. – Ein großartiges Stück voller Humor, das neben der detailliert ausgearbeiteten Handlung vor allem auch wegen seiner plastischen Charaktere für Spannung und Unterhaltung sorgt. (In diesen Tagen, in denen ich diesen Aufsatz schreibe, im Juni 2023, zeugt dieses Stück Schimmelpfennigs von politischem Weitblick.)
„Diese Nacht wird alles anders – Discoteca Paraiso“ wurde nicht uraufgeführt, sondern als Hörspiel urgesendet – am 29. 9. 2016 im SWR 2, Regie führte Klaus Buhlert.Der Untertitel „Discoteca Paraiso“ erklärt, worum es geht: um die Hoffnungen, die Illusionen, die Diskotheken erzeugen. In dieser Nacht, in der alles anders wird, erscheint das Unmögliche möglich, vor allem Liebesgeschichten könnten sich erfüllen, ein Bund fürs Leben geschlossen werden, der hält und das Glück verbürgt: Endlich die oder den finden, den man von ganzem Herzen sucht. Einer Variation des Themas von „Die Linie zwischen Tag und Nacht“.
Dieser Kern ist ganz ernst, drumherum wird die Illusionsmaschine im großen Stil ironisch angeworfen: mit Kunstlicht, viel Alkohol und ohrenbetäubender Musik: „5 Barmänner, 3 Bulgaren, 2 Italiener und 24 Franzosen, 30 Spanier, 4 Kanadierinnen, 12 Schwedinnen und Schweden, Norweger, Russen, Dänen, Belgier, Engländer“ verspricht das Personenverzeichnis, vom „SCHWARZEN HUND“ zu schweigen. Alle sollen auftreten, gespielt von fünf Darstellern – keine leichte Aufgabe. Thema und Durchführung legen nahe, in hohem Maß choreographische Elemente neben die schauspielerischen zu stellen. Mutmaßlich sind diese Ausschweifungen beim Entwurf des Personals ein Grund, weshalb das Stück – wegen seines Themas, seines Settings, vor allem aber seines ausgeprägten Sarkasmus‘ reizvoll – noch nicht uraufgeführt wurde. Für das Hörspiel lädt es zu akustischen Ausschweifungen ein – das Stück ist (auch) in Havanna entstanden und hat in seiner Anmutung viel Karibisches.
Die Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Mannheim setzte Schhimmelpfennig mit dem „Großen Feuer“ fort; das Schauspiel war eine Auftragsarbeit, sie wurde am 21. 1. 2017, wieder in Kosminskis Regie, uraufgeführt.
Im „Großen Feuer“ erzählt Schimmelpfennig übersichtlich die Geschichte zweier Dörfer, die sich an einem Fluss gegenüber liegen. Die Handlung, klassisch in fünf Akte gegliedert, beginnt im Frühling: das Verhältnis der beiden Dörfer ist harmonisch, ein Paar ist verliebt, sie aus dem einen, er aus dem anderen Dorf: „… diese beiden verliebten jungen Leute/sind wie gemacht füreinander//aber die Väter/hassen sich bis auf das Blut/seit einem Tag im letzten Mai.“ – Im Sommer verschlechtern sich die Verhältnisse rapide, aus dem Bach wird ein Fluss, die Dörfer scheinen sich voneinander zu entfernen. Dann bringt Dürre Not. Im Herbst vertieft sich der Konflikt, im Winter erst scheint das Eis, vor allem aber Weihnachten die Dörfer einander näher zu bringen: „… die beiden Glockenschläge/gefrieren in der Luft,/und werden eins,/ ein Ton, ein Singen liegt über dieser Nacht/ ein Schwingen, …“ (S.58).Doch das Stück endet pessimistisch: „Das große Feuer“. Einigen gelingt die Flucht, sie endet im Ungewissen: „keine rettende Küste ist in Sicht – da ist kein Ufer.//Das Boot treibt/auf dem offenen Meer.“ (S. 84).
Hauptgrund für die Konflikte ist das Wohlstandsgefälle zwischen den Dörfern. Doch mehr als die Unterschiede beschreibt Schimmelpfennig die Jahreszeiten, ihre Besonderheiten, ihre Schönheiten. Dabei unterlaufen dem sonst geschmackssicheren Schimmelpfennig Entgleisungen: „die Bienen summen,/die Zikaden zirpen/und die Fliegen/trompeten im Zickzack…“ (S.25) Das Stück hat wenig analytische Kraft und wirkt biedermeierlicher als bei Schimmelpfennig gewohnt. Die angedeutete Liebesgeschichte folgt der Konvention. Der Mangel an Originalität verweist „Das große Feuer“ auf die hinteren Ränge von Schimmelpfennigs Œuvre. Christian Gampert überzieht indes, wenn er in seinem Verriss (SWR vom 25. 1. 2017 im „Kulturthema“) sagt: „…der Parabel- und Märchenton (…) bekommt (…) einen penetrant belehrenden Beiklang. Er ist mittlerweile zu Stilblüten und Sprachklischees, zu einer zähen sakralen Soße geronnen. Die Flüchtlinge sind nicht auf dem Mittelmeer, weil zu Hause schlechtes Wetter ist oder die Scheune brennt. Ihre Gründe sind vielfältig – zu vielfältig für Roland Schimmelpfennig, dessen wahre Größe wohl die Einfalt ist.“ – Befremdlich, dass der Südwestrundfunk solch einen Angriff ad hominem sendet. – Volker Oesterreich urteilte in der Rhein-Neckar-Zeitung (vom 24. 1. 2016) ganz anders: „Der märchenhafte Ton hat stets etwas Schwebendes, Leichtes. Obwohl der Plot simpel gestrickt zu sein scheint, erzählt ‚Das große Feuer‘ viel von den Gefahren sozialer Kälte, populistischer Ausgrenzung oder eines präsidial verordneten Egoismus‘, der mit Parolen wie ‚America first‘ durch die Weltgeschichte zu poltern beginnt. Dass all dies in Schimmelpfennigs Text enthalten ist, macht seinen großen Wert aus.“
Besser gelang „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“, eine Auftragsarbeit für das Deutsche Theater Berlin, ein Jahr nach dem „Großen Feuer“, am 12. 1. 2018 in der Regie von Anne Lenk uraufgeführt.
Mit „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ greift Roland Schimmelpfennig ein bei Dramatikern beliebtes Motiv auf: Doppelgänger – im deutschen Theater von Kleist vorbildlich im „Amphytrion“ durchdekliniert. Doch während Kleist den Unterschied zwischen Ideal und Realität, zwischen Göttern und Menschen ausmisst, untersucht Roland Schimmelpfennig das Potential, über das durchschnittliche Menschen verfügen, die Möglichkeiten, die sie sich erschließen könnten, von denen sie heimlich träumen.
Anfangs treten in einer ganz gewöhnlichen Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder (Zwillinge!) aus heiterem Himmel Doppelgänger auf, erst beim Mann, dann bei der Frau. Die Exposition ist etwas lang geraten, Schimmelpfennig nutzt sie, um zu untersuchen, ob diese Doppelgänger nur vom Original oder auch von den anderen wahrgenommen werden. Der Clou liegt am Ende: Mitten in der Nacht steht der Doppelgänger auf, um einen Ausflug in eine verruchte Bar zu unternehmen; sein Original, verunsichert, folgt ihm. Im „Schwertfisch“ treffen sie auf eine rothaarige Sängerin, die ebenso verrucht ist wie die Bar. Sie singt das Lied von der „doppelten Haushaltsführung“: „Wenn du nicht da bist, wo du bist,/wo bist du dann, bist du dann da,/wo du nicht bist, bist du doch da,/und bist es nicht, wo du auch bist/und bist es nicht,/ und bist es doch,/und bist es nicht,/und bist es doch,/und bist es nicht/und bist es doch,/und bist es nicht.“ (S. 83).
Das Rätsel, das schon der Titel andeutet, löst sich, wenn das Publikum erfährt, dass die rothaarige Sängerin gar keine roten Haare hat, sondern eine Perücke trägt – und dass sie die uns wohlbekannte Frau (und Mutter) ist; die Frau hat schöne Beine und eine gute Stimme, das wurde ihr schon als junges Mädchen versichert. Deshalb fühlte sie sich mit ihrem Mann und den Kindern keineswegs ausgelastet und zufrieden, sie hat immer davon geträumt, Sängerin zu werden. Auch ihr Mann träumt, er hätte gern Abenteuer erlebt – die DER MANN 2 beherzt unternimmt.
Nach dem Ausflug in den Schwertfisch endet das Stück nach den Ausschweifungen der Nacht beim Frühstück, scheinbar ganz normal, wie immer, im kleinen Haus mit dem kleinen Garten. Aber nichts ist, wie vorher. Da kann auf einmal FRAU 2 hereinkommen, nur mit dem Pyjama-Oberteil bekleidet, und anfangen, sich die Fußnägel zu lackieren. „Niemand nimmt Notiz von ihr.“ (S. 103) – Aber sie ist doch da und alle wissen es, auch die Zwillinge.
„Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ ist eine geistreiche Komödie, die darauf hinweist, dass die Realität stets erweitert wird von den Möglichkeiten, die uns innewohnen, von den Träumen, die uns begleiten. Der Titel, der erst etwas umständlich klingt, löst ein, was er verspricht – die ungewöhnliche Stellung des zweiten „ich“ lässt stolpern, stolpern in die zweite Sphäre der Realität, die uns neben der ersten beständig umgibt. Das Lied von der „doppelten Haushaltsführung“ fasst das Problem prägnant zusammen. – Schimmelpfennig versucht sich immer wieder als Lyriker, ist als Silbenstecher aber wenig erfolgreich. Wer vermutet, Schimmelpfennig vergleiche sich mitunter mit den besten seiner Zunft, sollte bei Liedern kritisch anmerken, dass er hinter Brecht, von Shakespeare nicht zu reden, zurück bleibt. Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas: Doch dieses Lied kann sich hören lassen. Es fasst, mit Humor, zusammen, worum es im Drama geht.
„100 Songs“ erblickte, ungewöhnlich für Schimmelpfennig, nicht in einem Zentrum das Licht der Theaterwelt, sondern in der Provinz, genauer in der schwedischen Provinz; das Stück, vom Länsteater Örebro in Auftrag gegeben, wurde am 23. 3. 2019 in der Regie von Sara Giese uraufgeführt. Die „100 Songs“ sind ein ungewöhnliches Hohes Lied auf das Leben.
Das Stück beginnt mit einer ausführlichen Regieanweisung: „Eine Gruppe von Männern und Frauen betritt die Bühne./Das sind ganz normale Leute …“ Diese geschriebene Regieanweisung wird dann, zunächst stockend, gesprochen – “ EIN MANN: Eine Gruppe von Männern und Frauen …“ – Diese Doppelung bewirkt, dass die Zuschauer bewusster wahrnehmen (können), was sie auf der Bühne sehen. Dies ist ein Ziel Schimmelpfennigs: Die Wahrnehmung zu schärfen. Achtsamkeit!
Die szenische Situation ist hochdramatisch. Um 8.55 Uhr fliegt ein Zug in die Luft. Das Stück stellt verschiedenste Leute vor: Die Frau am Buffet des Bahnhofs, der eine Tasse herunterfällt; der alte, steinreiche Mann; der Pastor, der bedrückt ist, weil er ein Kind begraben soll; ein Mann, der höchst befriedigt ist, weil er am Morgen Sex hatte, usw. Keiner weiß, dass der Zug gleich in die Luft fliegen wird – und das Stück hält die Zeit an. Schimmelpfennig betont die Diskrepanz zwischen objektivem Zeitablauf und subjektivem Zeitempfinden: Stillstand, die Uhr wird auch mal eine Minute zurückgestellt. „100 Songs“ spielt meistens zwei oder eine Minute, bevor die Katastrophe eintritt.
Die meisten der 22 Szenen, die gleichermaßen gespielt wie beschrieben werden – wie schon am Anfang bei der Regieanweisung – zeigen banale Situationen – aber mitunter frönt Schimmelpfennig auch seiner Fabulierlust: er ersinnt völlig unwahrscheinliche Figuren und Situationen aus allen Teilen des Globus: der Bahnhof soll die Welt bedeuten. Ein andermal ringen Figuren um Sinn: gibt es einen Sinn im Leben oder nicht? Die Frage wird von verschiedenen Spielern verschieden beantwortet, sie bleibt offen.
Erst nach der umfassenden Beschreibung der Situation, eine oder zwei Minuten vor der Detonation, knallt es: „EIN ANDERER MANN: Acht Uhr fünfundfünfzig./Pause./Und dann – zerreißt es die Welt./Trillerpfeife/Ein Streichholz. /Die zerspringende Tasse./Pause.
EINE FRAU Also das -/EINE ANDERE FRAU Das ist nun wirklich nicht zu beschreiben -/ Pause/ EIN MANN Nein/ EIN ANDERER MANN Nein, das kann man nicht beschreiben – …“ (S. 57 f.)
Tatsächlich verzichtet Schimmelpfennig im Stück auch darauf, die Explosion zu beschreiben – das Publikum kann sich die Situation vorstellen, es reicht die Andeutung. Das Umeinanderfliegen von Leichenteilen und Trümmern, Höhepunkte bei Hollywoodfilmen, würde in Schimmelpfennigs Drama nur stören, weil es vom Wesentlichen ablenken würde.
Denn das Stück endet nicht als Tragödie. Ein Epilog fängt die Situation auf: Die Tasse fällt nicht zu Boden, zerspringt nicht in tausend Splitter, sie wird im letzten Moment aufgefangen. Sally bekommt das letzte Wort: „Das war wirklich knapp. … Danke, vielen Dank.“ (S. 63)
Die Wirkung ist stark: gerade, weil die Figuren eben dem Tod entronnen sind, wird der Wert des Lebens tief(er) empfunden – und die banale Art des Dahin-Lebens, die Schimmelpfennig und sein Ensemble das ganze Stück über beschrieben haben, wird als falsches Leben kenntlich gemacht. Das richtige Leben müsste den Wert des Lebens, jeden Augenblick, ganz anders, als nicht selbstverständlich, als Wunder empfinden, würdigen, bewerten.
Wie der Titel schon sagt, spielen „Songs“ eine große Rolle, den meisten Figuren wird ein Popsong zugeordnet. Sie könnten als Zeichen der Oberflächlichkeit gedeutet werden – nur selten gibt es die Einspielungen klassischer Musik, Chopin und Brahms: keine Songs. Hier markiert Schimmelpfennig den Unterschied scharf: unbedachter Zeitvertreib entspricht den Popsongs, die klassische Musik einem tieferen Empfingen über das Wunder des Lebens.
Die „100 Songs“ sind ein ungewöhnliches Hohes Lied auf das Leben.
Auffällig ist, bei wie vielen Stücken Schimmelpfennig „Auftragsarbeit“ vermerkt – so erhält ein Theater das Stück eines namhaften Autors zur Uraufführung – der Autor ist sicher, dass sein Stück an einer renommierten Bühne uraufgeführt wird und bekommt vorab, gewissermaßen für die Zeit, in der er schreibt, einen Betrag für seine Arbeit, seinen Lebensunterhalt – ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, das die Last von den Schultern des Autors nimmt: die finanziellen Sorgen während der Arbeit wie die Unsicherheit, ob sein Stück ein Theater findet. Auch das Bayerische Staatsschauspiel fand sich zu diesem Geschäft bereit: „Der Riss durch die Welt – 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung“ ist eine Auftragsarbeit, die Fragmente wurden am 8. 11. 2019 im Residenztheater (Cuvilliés) am 8. 11. 2019 in der Regie von Tilmann Köhler uraufgeführt.
Im „Riss durch die Welt“ fasst Schimmelpfennig die Gründe für die Konflikte in all seinen Stücken in einer einzigen, eindrucksvollen Passage zusammen – kurz und bündig: „Es kommt keine Strafe. Es gibt keine Strafe. Gott/straft niemanden. Gott straft schon lange keinen mehr./Der Riss geht durch die Welt, wie Sie sagen./Die Gesellschaft bricht auseinander./Der Versuch, soziale Differenzen, kulturelle Unterschiede und ökonomische/Abgründe zu überwinden, scheitert an Ängsten, Vorurteilen, Faulheit,/Einfallslosigkeit, Nationalismus, letztlich aber an der Habgier, an den/ökonomischen Mechanismen des Marktes und des globalkolonialen/Denkens./So einfach./So einfach ist es./Es geht nicht um Kulturen. Es geht nicht um Blut. Oder um Müll. Oder/ um Rauch und um eine rote Sonne. Tote Fische. Es geht um Geld. Am Ende/geht es immer um Macht, und es geht um Geld, denn Geld ist Macht./ Die erste Welt versklavt die dritte Welt. Die Oberschicht versklavt die Unterschicht.“ (S. 20).
Schimmelpfennig charakterisiert mit diesem Monolog TOM schon am Anfang des Schauspiels. TOM ist unermesslich reich, „über sechzig“ (Personenverzeichnis, S. 3), noch viril und Besitzer eines herrlichen Anwesens, in dem er zusammen mit seiner Frau SUE lebt, die etwa 20 Jahre jünger ist als er. Die beide haben Gäste: SOPHIA („um die dreißig“) und JARED („Anfang bis Mitte 20“ ) (ebda.).
SOPHIA ist Künstlerin und will mit TOM und SUE ihr Projekt besprechen: „Schwermetalle./Abfall./Kadaver/Haar, Fell,/Blei./Quecksilber./Öl./Krieg. Ein ganzer Fluss aus Plastik und Metall und Öl./Ein sich bewegender Müllberg, eine brennende Müllwelle, die sich das/Flussbett hinunterwälzt./ Ein Riss./Eine klaffende Wunde./Der Riss durch die Welt.“ (S. 7.)
„Der Riss durch die Welt“ – auch der glücklich gewählte Titel der 170 Szenen – bestimmt die Handlung. Der Hauptkonflikt besteht zwischen Tom und Jared: Alt und Jung, es gibt erotische Spannungen, die beiden Männer senden und bekommen Signale von der Frau des je anderen; reich und arm; klug und borniert; hochgebildet und bildungsfern; gewieft und aggressiv – der Konflikt ist unüberbrückbar. Wie bei den Frauen: SOPHIA wirft in einem inneren Monolog SUE vor, sie liebe TOM nicht, sondern habe sich ihm eigensüchtig genähert, egoistische Motive seien ausschließlich ihr Beweggrund.
Im Lauf des Stücks werden viele der Konflikte durchgesprochen, angesprochen, ausgesprochen – analysiert. Aber wie Schimmelpfennig schon im Untertitel feststellt: die Unterhaltung scheitert.
Mit dem Kunstwerk, das SOPHIA plant, erinnert Schimmelpfennig ganz bewusst an die zehn Plagen, die der Herr im Alten Testament schickt, um Moses‘ Forderung Pharao gegenüber Nachdruck zu verleihen, sein Volk gehen zu lassen. „Der Riss durch die Welt“ lässt offen, ob Sophias Kunstwerk realisiert werden wird – es ist aber nicht wichtig: es würde grundsätzlich nichts ändern.
Eine bedeutsame Figur ist Maria: sie wird als „Mitglied der Familie“ bezeichnet, ist aber tatsächlich in einer Hierarchie Herr/Knecht die Magd, der gute Geist des Hauses, macht sauber, Ordnung, kocht, bedient. Sie hört zu, kommentiert auch, scharfsinnig, teilweise sarkastisch, greift aber nicht ein. Sie ist die Protagonistin der letzten Szene. Der Auftritt ist stumm: „Die vier auf den Sofas. Auftritt Maria mit einem Besen, Handfeger und Kehrblech. Sie beginnt die Scherben aufzukehren. Die anderen sehen schweigend zu./Langsam dunkel.“ (S. 73).
Die Verknappung und Verdichtung der lyrisch durchgearbeiteten, jedes Wort wägenden Sprache gelingt Schimmelpfennig noch besser als in den meisten seiner anderen Stücke. Es gibt Szenen, die nur aus einem einzigen Auftritt, einem einzigen Satz bestehen. Dadurch wird die Bedeutsamkeit merklich gesteigert. Pausen sind aussagekräftig wie Worte, ein Kunstmittel steigert das andere. Das Unausgesprochene kommt machtvoll über die Rampe und erteilt den Schauspielern, aber auch dem Regisseur, reizvolle Aufgaben: eine der wichtigsten für das Stück ist der Klassenunterschied von TOM und JARED: TOM fühlt sich JARED unendlich überlegen, weil er gebildeter, reicher und vor allem auch erfolgreicher ist als JARED; JARED bemerkt, wie TOM ihn verachtet, auch wenn der sich klug zurückhält und nur mitunter (vieldeutig) lächelt. JARED macht die überlegene, sublim herablassende Haltung TOMS wütend, er weiß sich nicht zu helfen. Eine der stärksten Szenen wird mehrfach wiederholt: TOM wirft seine Brieftasche ins Kaminfeuer, Geld und Kreditkarten verbrennen. TOM braucht sie nicht und meint, JARED könne das Geld gern haben, er werde nichts damit anzufangen wissen, als es auszugeben. Ungesagt bleibt, dass es der Ideenreichtum TOMs ist, der die Grundlage seines Vermögens ist. – Mehrmals wirft JARED sein Weinglas gegen die Wand – ein hilfloser Protest.
Die „gescheiterte Unterhaltung“ endet, wie das Publikum erfährt, wenn MARIA die Scherben aufkehrt, nicht. Sie dauert an. Kunst und Macht sitzen nebeneinander. Der radikalste Entwurf dürfte nichts ändern – weder in der bildenden Kunst noch im Theater.
„Der Riss durch die Welt“ ist ein wahres Meisterwerk.
„Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit nach dem REIGEN von Arthur Schnitzler“, eine Auftragsarbeit für das Staatstheater Stuttgart, wurde dort am 24.04.2021 in der Regie von Tina Lanik uraufgeführt.
Schimmelpfennig hat sich für seine „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“ von Arthur Schnitzlers „Reigen“ anregen lassen, wie er im Untertitel vermerkt. Die Form ist ähnlich, die Kreisform des Reigens beibehalten, ähnlich ist auch das Thema, es geht um Sexualität und die damit verbundene Hierarchie, das Herr-Knecht-(oder besser: Herr-Magd-)Verhältnis, das Oben-Unten, das sich stets gegen die Liebe, die Gleichheit fordert, durchsetzt. Ganz anders als Form und Thema sind die indes einzelnen Szenen und Figuren.
Gleich am Anfang treffen sich Alejandra und Martin. Zwar handelt es sich hier wie bei Schnitzler um eine Prostituierte und einen Soldaten, doch Alejandra kommt aus dem Nahen Osten, in dem Martin gekämpft hat. Alejandra dankt Martin, er habe für sie und ihre Freiheit, ihr Leben gekämpft. Sie oder er ist ein Transsexueller – das würde in seinem Heimatland nicht geduldet. Er hätte mit empfindlichen Strafen zu rechnen, vielleicht sogar mit dem Tod – ein Leben, in dem er sich zu seiner Sexualität hätte bekennen können, hätte er gar nicht führen können. SieEr dankt ihm für seinen Kampf und erlöst ihn von seiner tiefen Depression mit gutem Sex.
Den Klassenunterschied, den Schnitzler vorgibt, thematisiert Schimmelpfennig mit einem Online-Date. Eine Dame der besseren Kreise hat die Online-Einladung eines jüngeren Mannes angenommen – dem sie um die Ohren haut, was sie von ihm, dem Niedrigeren, hält: „NINA: Die Musik ist peinlich./Der Wein ist ein Chardonnay aus dem Supermarkt, …/ und die Wohnung ist das, was sie ist./Nett, sauber, keine Klasse./In den Regalen wenig Bücher, schlechte Filme, hauptsächlich/Serien./…/Der Mensch, der hier wohnt, also du, lebt ein kümmerliches/Leben, vermutlich, in Anbetracht der mit diesem Lebensstil/verbundenen Kosten und dem dahinter anzunehmenden eher nicht/besonders hohen Bildungsniveau haben wir es mit einem/leitenden Angestellten auf mittlerem Niveau zu tun.“ (S. 76) – Diese schneidenden, hochmütigen, schmerzlichen, weil zutreffenden Bemerkungen sind nicht eben geeignet, die Erektion Franks zu befördern. Aber NINA schiebt tröstend hinterher: „Aber: geiles Profil. Geiler Körper.“ (ebda.)
Diese Szene macht, wie die anderen, indes zugespitzt, überzeugender deutlich, dass Klassenunterschiede seit den Jahren Schnitzlers bis heute nicht aufgehoben wurden, nur die Form gewechselt haben.
Sex ist auch heute noch Handelsware – das wird in Szenen gegen Ende deutlich, die sich um darstellende Künste drehen. VIVIANE ist „Schauspielerin, um die Fünfzig“ und bändelt mit NICK an, einem zwanzig Jahre jüngeren Drehbuchautor. Sie möchte von ihm Sex und ein gutes Drehbuch, in dem er ihr eine Rolle auf den Leib schreibt. Er ist bereit, ihr zu Willen zu sein, wenn sie ihre früher einmal erstklassigen Beziehungen spielen lässt, um ihn zu fördern. Die Skizze ist randscharf geschrieben; auch wenn von Neigung und Anziehung die Rede ist, weiß der Zuschauer, welche Absicht hinter den Annäherungen steckt. Ein zusätzlicher Reiz für eingeweihte Zuschauer sind Anspielungen auf lebende Personen, auf die Schaubühne am Lehniner Platz, auf eine berühmte Inszenierung von Tschechows „Kirschgarten“. Der boshafte Witz wie die erkennbaren Anspielungen beglaubigen die Aktualität von Schnitzlers Analyse, dass Sexverhältnisse Machtverhältnisse darstellen. (Und mehr: selbst dort, wo Kunsteinrichtungen den Missstand zum Thema machen und ihn anprangern, dauert er fort. Die Kunst bleibt im wirklichen Leben folgenlos.)
In Zeiten des Regietheaters, in denen Regisseure sich zu Herr*innen des Theaters aufgeschwungen haben, ist diese Anlehnung Schimmelpfennigs an Schnitzler bemerkenswert. Üblicherweise hätte ein durchschnittlicher Regisseur an einem durchschnittlichen Theater seine Inszenierung „nach Schnitzlers ‚Reigen'“ genannt und dann die ein oder andere Aktualisierung eingeflochten – das Ergebnis wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Inszenierung, bei der der Text hintere Schnitzlers weit zurückgeblieben wäre. Schimmelpfennig geht anders vor: er bearbeitet erst einmal das Stück, besser: lässt sich vom Thema des Stücks und seiner Form anregen, um dann zu aktualisieren. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Schimmelpfennig kann sich mit Schnitzler messen. Die einzelnen Szenen sind so glaubhaft und aktuell, dass sie, ohne je hinter Schnitzler zurückzufallen, dessen Befund auch für unsere Epoche beglaubigen: Liebe und Sexualität werden in den Dienst der Macht gestellt und verlieren so ihre heilsame und glückstiftende Funktion. Schimmelpfennigs „Skizzen“ sind allerdings nicht so ernst wie Schnitzlers, regen auch nicht so auf, weil das Thema nicht (mehr) so stark mit Tabus behaftet ist und Skandal hervorruft – diese Gravität gleicht Schimmelpfennig mit Humor, Ironie und Sarkasmus aus. Das Schauspiel ist eine Farce – der tragische Generalbass sollte nicht überbewertet werden.
Wie Schnitzler gelingt es auch Schimmelpfennig mit den reigenförmig angeordneten Szenen eine ganze Gesellschaft, eine ganze Epoche zu beschreiben. Schimmelpfennigs Quintessenz, so heiter sie dargeboten wird, ist doch düster: Wenn auch Tabus in den letzten hundert Jahren beiseite geräumt sind – die sexuelle Revolution war keine. Die erhoffte Befreiung blieb aus.
„Es ist auffällig, wie häufig Schimmelpfennig Kriegsmetaphern zitiert, wie er verstörende Bilder zeichnet, in denen er die sexuelle Konnotation von Gewalt und Zerstörung offenlegt und dabei mit der verführerischen Faszination von Grenzüberschreitungen spielt. (…) Schimmelpfennig entlarvt männliche Sexualfantasien und erzählt von der Angst der Männer vor dem Kontrollverlust. Er beschreibt eindeutige Situationen von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Aber er zeigt auch die ethischen Graubereiche und ihre emotionalen Ambivalenzen.“ (Ingoh Brux über SIEBZEHN SZENEN AUS DER DUNKELHEIT im Theater heute Jahrbuch 2020).
Nur einen Monat später folgte, ebenfalls am Bayerischen Staatsschauspiel in München, im Residenztheater, die Uraufführung von Der Kreis um die Sonne, ebenfalls eine Auftragsarbeit, in der Regie von Nora Schlocker.
„Der Kreis um die Sonne“ ist ein Stück über das Prekäre des menschlichen Lebens, um die Gefahr in jedem Moment, um die Möglichkeit des Todes – mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen – oder der Krankheit. Es kann als Stück über die Corona-Epidemie gelesen werden. Die Website von Schimmelpfennigs Theaterverlag weist eigens darauf hin, dass die “ Uraufführungspremiere, die am 14. November 2020 hätte stattfinden sollen, … coronabedingt“ verschoben werden musste.
Im Mittelpunkt steht ein ausgelassenes großes Fest. Jede/r kann kommen, der mag, es ist eng geworden; die Gäste trinken und tanzen, diskutieren und flirten, die Stimmung ist hervorragend. Kein Wunder, dass in dem Gedränge dem Mann, der auf seinem Tablett Getränke jongliert, die Gläser entgleiten und zerbrechen. Ein starkes Bild für das Gefährdete inmitten der Ausgelassenheit. Ein zweites sprechendes Symbol ist die Beschreibung einer Sonnenfinsternis: „EINE FRAU/Jemand erzählt von einer Sonnenfinsternis, die er auf/einer Pyramide in Mexico erlebt habe, vor mehreren/Jahrzehnten./ Der Mann sagt: Als habe jemand ein schwarzes Loch in den Himmel gebrannt.“ // DER MANN/ Als habe jemand ein schwarzes Loch in den Himmel/gebrannt./Es ist kurz vor Mittag, und der Tag wird zur Nacht. Es/wird plötzlich kalt. Und die Vögel hören auf zu singen./Und alles, was man an dem schwarzen Himmel noch sah,/war ein gleißend heller Kreis.“ (S. 116) – Auf diese Sonnenfinsternis, auf diese Textstelle bezieht sich der Titel.
Das Talent Schimmelpfennigs erweist sich immer wieder in der Aufnahme aktueller Themen, aber auch großer Stoffe der Theater- und Literaturgeschichte, die ihn reizen, weil er sie neu zu deuten weiß. Theaterleute in aller Welt schätzen dieses rareTalent und gehen das Risiko ein, ihm Aufträge zu erteilen, weil sie guten Grund zu der Annahme haben, dass Schimmelpfennig ein Stück glückt, das ihren Spielplan bereichert, weil es im Publikum wie bei der Kritik für Diskussionen sorgt.
Insofern ist der große Auftrag, das Antikenprojekt im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, eine konsequente Fortsetzung und ein Höhepunkt. Schon der Entwurf, der an Peter Stein und das Ensemble der Schaubühne in ihrer starken Phase erinnert, setzt Maßstäbe.
Nichts stellt das Ansehen und den Rang Roland Schimmelpfennigs als Dramatiker in helleres Scheinwerferlicht, als das Projekt des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg für die Spielzeit 2023-24. Karin Beier, die Intendantin, schreibt in der Saisonvorschau: „Die Stadt Theben steht im Zentrum unserer Spielzeit. Zusammen mit dem Schriftsteller Roland Schimmelpfennig haben wir uns an ein Experiment gewagt, und den umfangreichen Mythenkreis um Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste und Antigone, der die Gründung und die Geschichte dieser antiken Metropole beschreibt, zu einer fünfteiligen Serie unter dem Titel ANTHROPOLIS bearbeitet.“
Die Intendantin, eine renommierte Regisseurin, behielt sich die Inszenierung des Projekts selbst vor.
„Die Bacchen von Euripides“, so Schimmelpfennigs Bearbeitungstitel, wurde schon 2016 uraufgeführt. Wie Euripides beginnt Roland Schimmelpfennig mit einem Auftritt Dionys‘. Schimmelpfennig aktualisiert die Sprache gegenüber landläufigen Übersetzungen radikal; wichtiger als das Versmaß ist ihm der Inhalt: Dionys behauptet, ein Gott zu sein. Um die Legitimität seiner Abkunft und damit seines Herrscheranspruchs zu unterfüttern, behauptet er, sein Vater sei Zeus, der oberste der Götter. Er weitet, wie bei Euripides, seinen Stammbaum aus und erklärt, er sei nach Theben gekommen, um auch den Thebanern zu beweisen, dass er ein neuer Gott sei:
„DIONYSOS
Hinter mir liegt eine unsichtbare Spur:
Überall auf dem Weg
habe ich meine Feste eingeführt,
die Musik, den Gesang, die Trommeln, die Tänze –
und jetzt werde ich auch hier in Griechenland
den Menschen zeigen, was ich bin:
ein neuer Gott!“ (S. 4 f.)
Damit sind der Gegensatz und der Konflikt mit Pentheus begründet, dem König von Theben: Pentheus bestreitet Dionys den göttlichen Rang. Wie bei Euripides unterliegt Pentheus. Der König, neugierig, welche Feste die Frauen feiern, verkleidet und versteckt sich, um sie zu belauschen, „heimlich zu beobachten!“ (S. 51), wird entdeckt und von seiner Mutter, die, verblendet, wähnt, er sei ein Löwe, zerrissen.
Schon im Prolog wird klar, dass es Schimmelpfennig auf Verständlichkeit ankommt – er übersetzt nicht nur aus der fremden Sprache, sondern auch der weit entfernt liegenden Epoche, dem anderen Kulturkreis. Gleichzeitig unterstreicht Schimmelpfennig die Bedeutsamkeit der uralten Tragödie für unsere Gegenwart: Pentheus‘ Feindseligkeit gegen Dionys ist ideologisch begründet; Schimmelpfennig schärft noch die Züge des Königs als autoritärer Herrscher, der den Frauen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Verständlich machen, untersuchen, wieweit der alte Stoff, die alten Figuren bedeutsam sein könnten für uns heute – das sind offenbar(e) Motive Schimmelpfennigs für seine Bearbeitung.
Dieses Muster von Geschichte und Gegenwart lässt sich unschwer auf „Auf dem Weg zu Persephone“, eines der wenigen Stücke, das bislang noch nicht uraufgeführt ist, übertragen.
Die antike Sage über Persephone liegt uns Heutigen fern. Mitunter wird die Geschichte Phädras in der klassischen Fassung Racines aufgeführt. Insofern ist es interessant, die Geschichte ihres Gatten Theseus, den Phädra hintergeht, zu erfahren. Theseus ist berühmt, weil er den Minotaurus , ein Ungeheuer, halb Stier halb Mensch, bezwungen haben will.
Persephone, die Gattin des Gottes der Unterwelt, wird von Peirithoos begehrt und Theseus, sein Freund, begleitet ihn auf der Fahrt ins Totenreich. Von dort kehrte bislang niemand wieder. Als Theseus der Regel trotzt, beginnt eine Kette von Verhängnissen und Gewalttaten. Peirithoos hat schon Hände und Füße verloren, als Theseus ihn rettet; er schleppt den schwer verletzten Freund nach Haus. Dort kommt Theseus gerade an, als Phaidra und Hyppolyth heiraten – der Sohn Theseus‘ dessen Frau, Hyppoliths Stiefmutter. Phädra begeht, bevor ihr Gatte sich an ihr rächen kann, Selbstmord. Theseus sucht den Tod und beschwört seinen Sohn, ihn umzubringen. Doch Theseus kann den Tod nicht finden; sein Sohn Hippolythos stirbt bei seiner Verfolgung -Theseus ist zum Leben verurteilt.
Die Liebe unterliegt roher Gewalt. Schimmelpfennig betont die Grausamkeiten, die seine Figuren oft bis in die Einzelheiten beschreiben. Das Interesse gilt einerseits der Sage, andererseits ihrer Aktualität: die Atrozitäten haben bis heute nicht aufgehört, der Rachegeist lebt fort. Er kann, wie Theseus, der ihn verkörpert, nicht sterben.
Gute Voraussetzungen für das fünfteilige Antiken-Projekt in Hamburg. Das gilt auch und in besonderem Maß für die „Odyssee“, eine Auftragsarbeit für das Staatsschauspiel Dresden, uraufgeführt 2018.
Zur Geschichte der Odyssee gehört bei Homer zentral die treue Gattin Penelope, die zwanzig Jahren auf Odysseus wartet und die Avancen der Freier, Ithakas Jeunesse dorée, energisch und prinzipienstreng abweist. Ganz anders Schimmelpfennig: „Jahr für Jahr/kehrt Odysseus, der Städtezerstörer, nicht heim,/und Penelope fährt mit ihrem Geliebten,/einem Lehrer mit einem Kleinwagen,/in die Berge,/und dort lieben sie sich heimlich.“ (S. 100) In diesen Nächten erzählt der Lehrer Penelope Geschichten, in denen er Gründe für Odysseus‘ Fernbleiben ersinnt.
Wie schon in der Exposition mischen sich in diesen Skizzen Anklänge an Homers Odyssee mit realistischen Erzählungen aus unserer Zeit. Kirke wird zum Beispiel die ganze Szene 15 (S. 75 ff.) gewidmet. Die Insel der Göttin verwandelt Schimmelpfennig in eine vulgäre Kneipe, ihr Anziehungspunkt ist der Busen der Wirtin. Die zunehmend verwahrlosenden Männer kehren immer wieder, jahrelang, trinken Bier und reißen Zoten: sie verwandeln sich in Schweine (nicht ganz) wie in Homers Gesang – und doch ganz anders. Schimmelpfennigs Umwandlung ist geistreich und reizt zum Lachen. Schimmelpfennig öffnet die Augen dafür, dass die Odyssee nicht nur vergangen, sondern auch gegenwärtig ist.
Das Ende verändert Schimmelpfennig wie den Anfang. Odysseus tötet nicht nur Penelopes Freier, er ermordet nach und nach alle Männer auf Ithaka. Doch das bringt nicht das ersehnte gute Ende, Odysseus bleibt ruhelos. Am Ende schließt er die Augen, „sieht nichts mehr.“ – Vielleicht stirbt er. „Dieser Tag wird ein besonderer Tag. //EINE WEITERE FRAU/Sie flüstert vom Frieden.//EINE FRAU/Sie flüstert von der Hoffnung.//EINE ANDERE FRAU/Sie flüstert vom Glück.//Kurze Pause.// EINE WEITERE FRAU/Sie flüstert vom Aufbruch.“ (S. 123.)
Der Gedanke, das alte Epos handele vom Aufbruch, ist originell, nachvollziehbar und wirkt durch die Einbeziehung unserer Gegenwart aktuell. Das Schauspiel besticht durch Scharfsinn und Humor – vor allem die Grundannahme, Penelope warte nicht zwanzig Jahre auf ihren Gatten, gibt der Interpretation eine realistische Wendung, die dazu einlädt, die Odyssee neu, unvoreingenommen und ohne Ehrfurcht vor dem alten Kunstwerk zu betrachten. Die Sichtweise wirkt kühn und neu; Schimmelpfennig zeigt Stärken unvoreingenommenen Betrachtens, analytischer Schärfe: die Umsetzung seiner Erkenntnisse in kristallklare, oft verblüffende Szenen ist seine Force.
Am überzeugendsten wirkt eine Szene am Anfang, in der der Aufbruch der edlen Achäer durch wenige Federstriche als Überfall von bedenken-und gewissenlosen Räubern auf arglose Zeitgenossen charakterisiert wird. Die Odyssee, mehr noch die vorausgehende Ilias, beschreibt mit dem Angriff auf Troja einen Überfall – und legt nahe, dass auch die kriegerischen Auseinandersetzungen unserer neueren Epochen Raubzüge sind, schlecht gerechtfertigt durch leicht durchschaubare Narrative, die die wahren Motive: Gier, Blutdurst, vor allem aber Herrschsucht, nicht zu verdecken vermögen. Griechen und heutige Kriegsherren sind skrupellose Eroberer. Es bedarf keines großen künstlerischen oder intellektuellen Aufwands, sie zu entlarven. Gerade in der Einfachheit der Methode liegt wegen ihrer (Unmiss)Verständlichkeit die Überzeugungskraft von Schimmelpfennigs oft epischem Theater – er und seine Szenen machen keine Umstände. Dieses Theater nimmt Partei gegen Krieger und Räuber, klagt den Imperialismus und Kolonialismus an. Schimmelpfennigs Aufenthalte in der Türkei und Kuba haben tiefe und sichtbare Spuren in seinem Œuvre hinterlassen. Die Verklärung siegreicher Mächte als Herrenmenschen, als turmhoch überlegene Rasse entlarvt Schimmelpfennig als pure Anmaßung.
Schimmelpfennig hat nicht nur Stoffe der Alten bearbeitet, sondern auch Werke jüngerer Jahrhunderte. Dazu gehören auch Kinderstücke: „Der Zinnsoldat und die Papiertänzerin“ für „Kinder ab 5 Jahren“, 2019 in der Inszenierung Schimmelpfennigs uraufgeführt, ist von Hans Christian Andersens „Der standhafte Zinnsoldat“ inspiriert – indes stark verändert. Ein Junge bekommt zum Geburtstag einen Zinnsoldaten und eine Ballerina geschenkt, doch andere Geschenke zieht er vor – denn die Ballerina ist nur aus Papier und dem Zinnsoldaten fehlt ein Bein. Der Junge legt die Spielzeuge beiseite aufs Fensterbrett, sie fliegen hinaus und beginnen eine abenteuerliche Reise. Die Didaxe des Stücks zielt darauf, Kindern Einfühlungsvermögen zu vermitteln, Mitgefühl. Der Zinnsoldat steht für Versehrte, die Ballerina für Schwache – Schimmelpfennig konturiert sie sympathisch, während der Junge für die Starken steht und wegen seiner Hartherzigkeit abstoßend wirken soll. Die Kinder im Publikum können und sollen Partei ergreifen.
Schimmelpfennig nimmt die Herausforderung an, die darin liegt, sich zu beschränken, er kommt mit nur drei Schauspielern aus – die Reduktion auf das Allerwesentlichste, die die meisten seiner Dramen kennzeichnet, beherrscht auch dieses Stück – nicht als Mangel, sondern als Stärke: die Aufführungen regen die Phantasie und das produktive Einbildungskraft ihrer Zuschauer an. Schimmelpfennig als Dramatiker erweist sich als Kinderfreund, der sich seines jungen Publikums einfühlsam annimmt und die neue Generation mit einem alten Kunstmärchen bekannt macht.
Die „Kleine Meerjungfrau“ wurde mit dem Mülheimer Kindertheaterpreis 2023 ausgezeichnet. Schimmelpfennigs Märchen „sehr frei nach Hans Christian Andersen“, wie schon im Titel angemerkt, ist für Kinder ab fünf geschrieben. Die Mülheimer Jury würdigte, dass Schimmelpfennig die surreale Welt seiner Neu-Interpretation von Hans Christian Andersens Märchen „allein durch die Sprache entstehen lässt“.
Schimmelpfennigs „Meerjungfrau“ ist ein Stück über Phantasie und Einbildungskraft, vor allem aber steht im Mittelpunkt eines der ungelösten Probleme unserer Gegenwart. Zwei Jungen und ein Mädchen stehen am Rand einer Wüste an einer Küste. Es ist heiß und staubig. Die drei träumen sich aus der Ödnis und ihrem tristen, perspektivlosen Alltag heraus. Sie beschließen, aus ihrem sonnenverbrannten, elenden Dorf abzuhauen. Das Meer lockt, verspricht Freiheit und Abenteuer. Sie stellen sich vor, auf dem Grund des Meers gebe es eine leuchtende Stadt. Doch auf See bricht die Realität erbarmungslos über die drei herein. Lösen sie sich auf, werden ihre in Sand geschriebenen Namen von der Flut weggewaschen?
Die Kinder, die das Stück sehen, sollen Verständnis bekommen für das Schicksal von Flüchtlingskindern – eine Facette des Bemühens von Schimmelpfennigs Wirkungsästhetik für mehr Verständnis, mehr Empathie – und ein weiterer Hinweis auf sein Engagement für die Armen, auch die armen Länder.
Eine Variation dieses Engagements verwirklicht Schimmelpfennig mit „Die Biene im Kopf“, eine Auftragsarbeit für die Kunststiftung NRW und das Consoltheater Gelsenkirchen, dort 2016 uraufgeführt. Das Zielpublikum sind wieder Kinder ab 5 Jahre.
In den Mittelpunkt rückt Schimmelpfennig einen Jungen, vielleicht acht Jahre alt, aus prekären Verhältnissen. Das fängt schon damit an, dass ihn niemand weckt. Die Wäsche ist nicht gewaschen, kein Frühstück vorbereitet, der Vater sitzt schlafend am Küchentisch, um ihn herum geleerte Bierflaschen. Der Tag ist gespickt mit Herausforderungen, die den Jungen, obwohl er alle mit List und Phantasie besteht, dennoch mitnehmen. Am Ende des Stücks, schon halb im Traum, resümiert er seinen Tag der Bienenkönigin: „Weißt du, was heute los war?/Erst vergessen sie mich zu wecken, und dann wollen sie mich in der Schule fast plattmachen und auf dem Heimweg, auf dem Heimweg zurück von der Schule, da – /kurze Pause./ Und dann macht dir keiner was vernünftiges zu essen, und ich hätte fast die Küche in die Luft gejagt -/ und schließlich bist du im Bett, und dann kommt keiner, weil die irgendwas//im Fernsehen zu Ende sehen wollen -“ (S. 76).
Roland Schimmelpfennig will nicht nur Verständnis für das Leben des Jungen in prekären Verhältnissen bei seinen Zuschauern wecken, er hat auch noch einen besonderen Trost für seinen Protagonisten. Die Bienenkönigin versichert ihm, er sei etwas Besonderes. Warum?, will der Junge wissen. – Eben, weil es ihm gelungen ist, allein, ohne Hilfe der Eltern, der Lehrerein oder der Kameraden, den Tag zu meistern. – Schimmelpfennig weist auf eine Lösung, die nicht utopisch ist, macht Mut für das Mögliche.
Er hat sein Stück auch als Erzählung mit Illustrationen von Barbara Jung veröffentlicht, Schimmelpfennig spricht Kinder von heute an: sein Protagonist erlebt Abenteuer um Abenteuer und steigt, wie in einem Computerspiel, von „Level“ zu „Level“ auf. – Die Erzählung ist ebenso gelungen wie das Stück.
„Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum“, eine Auftragsarbeit für das Schauspiel Frankfurt, 2011 uraufgeführt, ist ein herausragendes Stück Schimmelpfennigs; nirgends sonst, außer in „Push up“, war es ihm (bislang) geglückt, so explizit Standpunkte herauszuarbeiten und gegeneinander zu stellen: die Szene ist hochdramatisch. RUDI, eine der vier Figuren, die die dramatis personae bilden, Arbeiter, die ein altes, marodes Haus (!) renovieren sollen, ergreift für einen langen Monolog das Wort: „Die Industriegesellschaft – das sind wir,/und die Industriegesellschaft zerstört die /Natur, zerstört das Klima, die schützende Hülle/der Erde,/die Industriegesellschaft wird diesen Planeten/zu Grunde richten./Mehr als eine Milliarde Menschen leben auf/diesem Planeten in diesem Augenblick von/weniger als einem Dollar pro Tag.//Wir werden nicht den Abgrund zwischen Arm und /Reich auf diesem Planeten überbrücken, niemals. … das ist die große Schwäche/der Gattung Mensch, die Fühllosigkeit.“(S. 45 f.) ULI setzt dagegen seine Ansicht, Schimmelpfennig lehnt sie an die Form des Glaubensbekenntnisses an: „Ich glaube fest an eine Zukunft,/ich glaube,/daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten/in Frieden zu leben,/der Mensch, Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.// der Mensch,//wir,//wir werden das erreichen,/wir werden das erschaffen,/was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen/ist, … (S. 49.)
Das Haus, das die vier Männer renovieren sollen, ist sonderbar, die Handwerker haben keine rechte Vorstellung, wo die Schwächen liegen, was zu tun ist, sie arbeiten ohne Plan – und noch seltsamer wird es, als ein Kollege, der verschwunden war, wieder auftaucht und von einem Zwischenreich erzählt, das stark an Shakespeare Sommernachtstraum erinnert:
„Drei Handwerker.
– Wer sagt, daß da kein Träger drin ist –
– Wieso Träger – ich seh keinen Träger –
– Kann aber einer drin sein.
– Wer sagt, daß das keine tragende Wand ist –
– Das kann keine tragende Wand sein –
– Und wenn –
– Wenn? Wenn, dann –
– Dann was?
– Ja – dann –
– Im Plan ist nichts –
– Im Plan, ja, aber der Plan – der Plan ist dafür nicht gemacht.
– Der Plan ist der Plan.
Sieht auf den Plan.
– Aber wer sagt, daß der Plan stimmt –
Kurze Pause.
– Wer sagt, daß der Plan nicht stimmt –
Den Plan in der Hand, sehen sich die drei abwechselnd ratlos an.“
Ob die Vier das Haus in Stand setzen können? Zweifel sind geboten – weniger Zweifel, dass das Haus unsere Republik bedeuten könnte/soll, und die Männer uns repräsentieren. Gewürzt wird die souverän erzählte Fabel mit Sex und einem beneidenswert potenten Arbeiter, der jeden Orgasmus mit einen Strich an die Wand notiert: imponierende neun! insgesamt.
Bei den beiden oben zitierten Monologen arbeitet Schimmelpfennig noch klarer als sonst heraus, welche Sprache er wählt und warum. Oberstes Ziel ist die Verständlichkeit. Er vermeidet Worte, die dem elaborierten Code zuzurechnen wären, ohne indes je in einen restringierten Code zu verfallen. Die Worte kommen aus der Mitte der Gesellschaft/Sprache, nichts klingt kompliziert, unzugänglich oder gar hermetisch. Im Schriftbild werden die Dialoge als Verse abgebildet, auf einmal gibt es einen Bruch – ganz offensichtlich bei „der Mensch“ und „wir“.
[Spricht und/oder liest der Schauspieler den Text: „Ich glaube fest an eine Zukunft,/ich glaube,/daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten/in Frieden zu leben,/der Mensch, Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.// der Mensch,//wir,//wir werden das erreichen,/wir werden das erschaffen,/was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen/ist“ fortlaufend, ohne Brüche: „Ich glaube fest an eine Zukunft, ich glaube, daß es möglich sein wird, auf diesem Planeten in Frieden zu leben, der Mensch, (Er macht eine kurze, ehrfurchtsvolle Pause bei diesem Begriff.) der Mensch, wir, wir werden das erreichen, wir werden das erschaffen,/ was unsern Vätern und Vorvätern nicht gelungen ist“, so versinkt das „wir“ im Gesamten, verliert zumindest an Bedeutung – die Möglichkeit, das „wir“ in seiner schwerwiegenden und problematischen Bedeutung zu erfassen, wird geringer. Steht es indessen isoliert auf einer Zeile, kann das „wir“ leichter problematisiert werden. Wer ist gemeint? Das Handwerkerkollektiv auf der Bühne, das Publikum im Zuschauerraum, das Ensemble und die Zuschauer gemeinsam – oder vielleicht ganz Deutschland? Ist es überhaupt möglich, von „wir“ zu sprechen – oder ist schon der Zusammenhalt der fiktiven Handwerker so gering, dass von „wir“ keine Rede sein kann? Schimmelpfennig spürt der Bedeutungslast dieses einzelnen Wortes nach und lädt sein Publikum ein, ihm zu folgen. Bei „wir“ verstärkt er noch den angestrebten Effekt, „wir“ steht nicht nur allein auf einer Zeile, „wir“ bildet eine ganze Strophe. Die künstlerische Absicht wie die differenzierte Umsetzung überzeugen:]
Die Brüche sind bewusst gesetzt, am Ende, noch stärker am Anfang der Zeile steht das als wichtig hervorgehobene Wort. Schimmelpfennig verzichtet zugunsten der Verständlichkeit auf Metrum und Endreim, Versprunk ist ihm fremd, die Sprache ist solide, gediegen, weil jedes Wort gewogen wird. Auch, wenn Schimmelpfennig zauberische Welten entwirft, ist jedes Wort, ist jeder Satz verständlich. Der übersichtliche Alltag geht im Arrangement, in der Erfindung, im Phantasma („Arabische Nacht“) verloren. Diese Sprache hat ihren Reiz als Gegenentwurf zur Klassik. Wie oft verleidet die komplexe, meisterhafte Sprache der Klassiker Schülern das Lesen – sie vermögen nicht zu folgen – und bei Aufführungen ist der Verlust des Verständnisses häufig zu beobachten. Dem wirkt Schimmelpfennig entschieden entgegen, sein Ideal der Klarheit ist eine Entscheidung für ein volkstümliches Theater, das niemanden zurücklässt, nie Bildungsbarrieren aufbaut, sie im Gegenteil vermeidet. Die Ellipse ist Schimmelpfennigs bevorzugtes Stilmittel beim Dialog. In diesem Sinn ist Schimmelpfennigs Theater Volkstheater.
Volkstheater ist auch „Das fliegende Kind“, im Wiener Burgtheater am 4. 2. 2012 in der Regie des Autors uraufgeführt. Die Tragödie ist kein Kinderstück, wohl aber steht ein Kind im Mittelpunkt:
„Es war einmal ein Mann,/der fuhr sein eigenes Kind tot“, sagen „DIE DREI FRAUEN“ am Schluss des Epilogs, das Schauspiel resümierend. Im (fast schon regelmäßig gebauten) Fünfakter spürt Schimmelpfennig der Vorgeschichte des Unfalls, bei dem der kleine Junge zu Tode kommt, nach.
Der Unfall ereignet sich am Martinstag. Eltern, ihre Kinder und Lehrerinnen treffen sich am Ufer des Flusses für den traditionellen Laternenumzug. Als es dunkel geworden ist, werden die Lampions angezündet, alle gehen am Strom entlang, sorgfältig überwacht; die Kinder werden immer wieder ermahnt, nicht zurückzubleiben. Ein kleiner Junge umfasst ein Spielzeugauto in der Manteltasche, er freut sich, er hat es vom Vater stibitzt. Er verliert das Auto und geht, trotz der Mahnung bei den anderen zu bleiben, unbeachtet von seinen Lehrerinnen und seiner Mutter, zurück, um das Spielzeug zu suchen. Er überquert die Straße, auf der das kleine Auto liegt. Dabei geschieht das tödliche Unglück.
Die Mutter war überfordert und abgelenkt. Sie trägt das weinende Schwesterchen des Jungen auf dem Arm, während sie an einen Mann denkt, den sie beim Gottesdienst gesehen hat – Anfang eines Flirts. Sie ist mit ihrer Ehe unzufrieden. Ihr Mann belastet sie mit der Erziehung der Kinder, ist nie da. An diesem Abend will er zum Vortrag einer schönen Südamerikanerin – er erhofft sich ein Schäferstündchen. Seine Frau ist nicht ohne Grund argwöhnisch.
Schimmelpfennig fügt weitere Stränge hinzu, die zum Unfall führen – es gibt nicht einen, es gibt viele Gründe. Ist es nicht unverantwortlich, mit Kindern die vielbefahrene Straße einer Riesenstadt an einem dunklen Abend im November zu überqueren?
Den größten Anteil an der Schuld am Unfall weist Schimmelpfennig dem Vater zu. Er hat sich gerade eben einen funkelnagelneuen (schwarzen!) Wagen gekauft, ist mit ihm zur Arbeit gefahren, und startet ihn gerade erst zum zweiten Mal, um nach der Arbeit zum Vortrag der verehrten südamerikanischen Gelehrten zu fahren, die er verführen möchte. Er ist noch nicht mit dem neuen Wagen vertraut, weiß nicht, wie empfindlich er reagiert, wenn er Gas gibt. Schlimmer: er weiß nicht, wo der Schalter für die Scheinwerfer ist und fährt einen großen Teil der Strecke ohne Licht; als er startet, fängt das Autoradio an zu brüllen – der Fahrer weiß nicht, wo er es leiser oder ausstellen kann. Dann klingelt das Handy, und als er es sucht, um den Anruf anzunehmen, fällt ihm das Gerät auf den Wagenboden. Er fährt weiter, während er das Handy sucht – vermutlich in diesen Momenten, abgelenkt, überfährt er seinen kleinen Jungen.
Schimmelpfennig begleitet den Hauptstrang mit mehreren Nebenhandlungen: ein Mann arbeitet im Turm der Kirche – er trifft den Jungen, der eben gestorben ist, auf der Brüstung und versucht, ihn ins Leben zurück zu locken – vergebens – der Junge fliegt – darauf bezieht sich der Titel.
Eine andere Nebenhandlung vertieft das Hauptmotiv, den Tod. Unter der Straße arbeiten Männer unter der Straße. Einer erinnert an den Tunnel im schweizerischen CERN, in dem das Aufeinanderprallen von Elektronen untersucht wird. Die DREI MÄNNER erklären: „Und was passiert dann,/wenn in dem Tunnel/die winzigen Teile aufeinanderprallen-/dann zerspringen sie/und verschmelzen/und dann entsteht/ein schwarzes Loch,/in dem alles verschwindet,/ …“ (S. 88)
Charakteristisch für die szenische Präsentation ist die Trennung von Ereignis und Beschreibung. Das Ereignis wird nicht sichtbar gemacht, die DREI MÄNNER skizzieren es nur – es ist Aufgabe des Zuschauers und der Zuschauerin, sich das „schwarze Loch“ vorzustellen, sich der kosmischen Dimension des Todes, noch dazu des Todes eines Kindes, zu vergegenwärtigen, eines Todes, der keineswegs notwendig passiert, sondern Resultat vieler Fahrlässigkeiten ist, die in ihrem Ergebnis in den Tod münden.
Die Wirkabsicht des Stückes wird deutlich: sei aufmerksam! Denkt daran, was ihr wisst, wie gefährlich zum Beispiel ein (tonnenschweres) Auto ist, wie notwendig, auf Kinder aufzupassen, sich nicht ablenken zu lassen.
Die Schilderung ist der unmittelbaren, gegenwärtigen Präsentation des Vorgangs auf der Bühne weit überlegen – das beweist und nutzt Schimmelpfennig immer wieder. „Das fliegende Kind“ fliegt in dem Moment, in dem es sich vom Kirchturm abstößt. EINE FRAU UM DIE SECHZIG bekommt das Wort: „Und dann stößt sich das Kind ab, und es schwebt/tatsächlich in der Luft – der Wind treibt es ein bißchen weiter./Siehst Du? Ruft das Kind. Es geht! Es geht! Ich habe es dir gesagt!/Und der Mann in dem Glockenturm lacht schief. Ja -/ das Kind hängt am Nachthimmel in der Luft, die/Arme ausgestreckt, die Beine, der leichte/Körper. Die Zeit steht still.“ (S. 72) – Eher eine Szene für einen Film mit Tricks, im Theater schwer zu realisieren mit Seilen vom Schnürboden. Es geht aber um die Vorstellung beim Publikum – und um die zu evozieren, reichen Worte völlig aus. Die Konzentration bleibt so beim Vorgang und wird von der Realisierung nicht abgelenkt.
„Die Zeit steht still“. Das ist tatsächlich nicht herzustellen – nur in der Vorstellung, der Phantasie. Aber warum den Lauf der Zeit anhalten? Um klar zu machen, welche Bedeutung der Unterschied von Leben und Tod hat.
Schimmelpfennig gelingt es, innezuhalten. Für den Vorgang, für sein Publikum, um den Wert des Lebens zu unterstreichen, um klar zu machen, welches Gewicht der Leichtsinn hat, welche Folgen Fahrlässigkeiten nach sich ziehen.
Bis in der Art des Notats reicht diese Absicht Schimmelpfennigs, gegen die Oberflächlichkeit anzugehen: Manche Seite ist ganz frei gelassen, um zu unterstreichen, dass nun eine Szene abgeschlossen ist und eine neue beginnt. Zwischen den Zeilen ist Raum, die Wort sind wie in Versen notiert, jedes Wort hat Bedeutsamkeit/hohe Bedeutsamkeit.// Jeder Aspekt. Es ist schwer, darüber hinweg zu gleiten – für Regisseure, für Schauspieler und für Zuschauer.
Gut anderthalb Jahre später, im Oktober 2013 wurde „Hier bin ich“ in der dänischen Hauptstadt uraufgeführt; Kopenhagen war nicht zufällig Ort der Uraufführung, das Schauspiel dreht sich um Søren Kierkegaard – das Holland House hatte Schimmelpfennig einen Stückauftrag gegeben, es erinnerte an den 250. Geburtstag des dänischen Philosophen. Schimmelpfennig fügt dem Titel erläuternd hinzu „nach Motiven von Sören Kierkegaard“.
In den Mittelpunkt rückt Schimmelpfennig die Geschichte von einem Zeitgenossen, der mit seinem Sohn zu einem Spaziergang aufbricht. Gleich in der 1. Szene wird die Exposition genau umrissen: „DER JUNGE – Mich wollte ein Mann töten./Kurze Pause./Er wollte mich schächten wie ein Tier./Der Mann sagte, so sei der Befehl Gottes.“ (S. 5.) Der Hinweis auf die alttestamentarische Episode von Abraham und Isaak erweist sich als glückliche Idee: Einerseits liegt sie Kierkegaards „Furcht und Zittern“ (1843) zu Grunde, andererseits lässt sie Raum für die Distanz des Autors, des Regisseurs, der Darsteller zu einer Religion, in der Gott einen Anhänger derart prüft, weist auf unseren zeitlichen Abstand zum Alten Testament hin wie auf die zeitliche Distanz zu Kierkegaard, der gerade diese Episode gutheißt und verteidigt – und schafft so Raum für kritische Distanz der Zuschauer. Heutzutage sich vorzustellen, dass ein Vater mit seinem Sohn und einem Kanister Benzin in einen morgendlichen Park spaziert, um den Sohn zur Ehre Gottes zu verbrennen – ein ebenso verstörender wie provozierender Gedanke.
Die Szenen – insgesamt 300!, luftig gebaut – bestehen häufig nur aus einem Satz mit wenigen Worten. Sie tippen Probleme und Fragen an, die das Wesen der Religion betreffen – aber auch Fragen zum Leben Kierkegaards, sein problematisches Verhältnis zu seinem Vater – und regen das Nachdenken über die angedeuteten Thesen und Sachverhalte an. Schimmelpfennigs Methode der Reduktion und Aussparung treibt er hier zu neuen Höhepunkten. Immer wieder gelingt es ihm, zentrale Probleme in nur wenigen Worten nicht nur anzudeuten, sondern auch gleichzeitig zu umreißen – die drei Worte des Titels, die immer wieder auftauchen, immer wieder aufgenommen werden, sind das beste Beispiel: „Hier bin ich“.
Zum Schluss ziehen DER MANN, aber auch Schimmelpfennig Bilanz: „Je öfter man versucht, desto mehr begreift man, wie/unmöglich es ist zu sagen:/Hier bin ich./Denn den Satz auszusprechen setzt voraus, daß man weiß, wo man ist/und wer man ist. Was man ist. Der Mensch./Und das begreifen wir nicht./Und deshalb war ich nicht ich, als ich sagte: Hier bin ich./Und doch:/ Ich war ich: Aber ich weiß nicht, wer ich war, als ich sagte:/ Hier bin ich.// ENDE“( S. 69f.)
Ein wahrhaft philosophisches Ende eines eminent philosophischen Stücks. Um an einen Philosophen und sein Werk zu erinnern, Kierkegaards Fragestellungen gerecht zu werden wie seiner Fragwürdigkeit.
„Hier bin ich“ gehört zu Schimmelpfennigs anspruchsvollsten, komplexesten und geglücktesten Stücken.
Auf die Uraufführung in Dänemark folgte nach gut einem Jahr die nächste auf Kuba – Schimmelpfennig in Skandinavien wie in der Karibik! „Die Straße der Ameisen“ wurde von der Compañia del Cuartel in La Habanna, am 26. 10. 2014 in der Regie Schimmelpfennigs uraufgeführt. (Die Deutschsprachige Erstaufführung folgte knapp drei Jahre später am Theater Kiel, am 2017).
In der „Straße der Ameisen“ beschäftigt sich Roland Schimmelpfennig mit einem seiner ureigenen Thema, mit der Kraft der Phantasie. Vier Figuren: die Tochter, die Mutter, die Großmutter und der Freund der Tochter führen ein Alltagsleben in einem Land, in dem es karg zugeht. Es liegt nahe anzunehmen, dass „Die Straße der Ameisen“ auf Kuba, in Havanna spielt.
Der Großvater wartet schon seit Jahrzehnten auf ein Lebenszeichen seines Bruders, der eines Tages aus heiterem Himmel spurlos verschwunden war. Der Großvater sitzt an der Straße und schaut – vergebens. Bis eines Tages ein Paket eintrifft. Die Erwartungen sind groß – aber werden enttäuscht. Es ist nur ein Glas darin, ein Löffel, ein alter Kalender …
Aber die Einbildungskraft Schimmelpfennings, verbunden mit seiner Fabulierlust, verzaubern die alltäglichen Gegenstände: „DIE GROSSMUTTER./Kurze Pause/Wir hatten das Glas, das nie leer wurde./Kurze Pause./Wir hatten den Löffel der 1000 Geschmäcker./Kurze Pause/ Wir hatten den Kalender der Vergangenheit/Kurze Pause./Wir hatten den romantischen Kugelschreiber.“ (S. 59) – Den Familienmitgliedern ist klar, dass sie diese Geheimnisse, die den scheinbar unscheinbaren Dingen innewohnen, für sich behalten müssen, was sie sich auch gegenseitig versprechen – aber offenbar nicht halten. Das Glas des Großvaters, das nie leer wird, findet viele Freunde – auch zahlende. Der Löffel der Großmutter ebenso – und im Kalender der Vergangenheit blättern viele gern und erinnern sich, wenn man die Seufzer recht deutet, die Schimmelpfennig den Schauspielern vorschreibt, an schöne, vielleicht sogar erotische Ereignisse. Der romantische Kugelschreiber ist mutmaßlich am interessantesten, weil er dem Freund der Tochter zu Gedichten verhilft, die zunächst Nachbarn gefallen, dann deren Freundinnen – und dem Freund schließlich zu Ruhm verhelfen. Im Freund dürfte Schimmelpfennig eigene Erfahrungen verarbeitet haben – höchst ironisch verarbeitet. – Aber nach erster Aufmerksamkeit im kleinen Kreis wird der Erfolg übermächtig – der Freund kann Gedichte verkaufen, erringt Bekanntheit, Ruhm – und verändert sich – wie die ganze Familie. Auf den Aufstieg folgt der (Ab)sSturz.
Ironie, Sarkasmus, Fabulierlust und eine schwer zu überbietende Lakonie, die dem Einfühlungsvermögen des Publikums Raum bieten, fließen so zusammen zu dem Rat, angesichts der Kargheit der Verhältnisse nicht den Mut oder gar die Lebenslust zu verlieren, sondern sich auf dem Flügeln der Phantasie über die Misere der Realität zu erheben und so die Wirksamkeit des Elends zu begrenzen. Aber, und darauf weist der rasante Abstieg am Ende, auf Dauer könnte sich das Konzept als nicht tragfähig erweisen. Die kubanischen Zuschauer*innen werden wohl einen erfahrungsgesättigten Kommentar dazu gegeben hab, nachdem sie die Inszenierung der Compañia del Cuartel, die die Uraufführung in Havanna übernommen hatte, gesehen haben. Schimmelpfennig hat die Kraft der Phantasie zu stark gewichtet, indes: dies ist ein gutes Mittel, sich nicht allzu sehr niederdrücken zu lassen, in Depression oder gar Lähmung zu verfallen.
Eines der überzeugenden Schauspiele Schimmelpfennigs, weil das Konzept, das Lebenskonzept überzeugt – und auch das ästhetische: nur kurze Sätze, die richtigen, wohl gewogenen Worte; nur wenige Schauspieler werden benötigt, um die Phantasie zu entbinden – ein Realismus der Möglichkeiten. Und ein Beispiel für unsichtbares Theater nach dem Konzept von Augusto Boal. Das Stück bedarf keiner Bühne, es kann in jeder Scheune, auf jedem staubigen Marktplatz aufgeführt werden – wenn Gesetzeshüter kommen, verschwinden die Spieler rasch und unauffindbar. – Das Anknüpfen Schimmelpfennigs an einen überragenden südamerikanischen revolutionären Theatertheoretiker wirkt wie eine Verbeugung vor diesem Weltteil, aber ist auch ganz praktisch ein Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit – Kopenhagen, Havanna, Kiel…
… und Mannheim. „Das schwarze Wasser“, eine Auftragsarbeit, wurde am 2015 dort uraufgeführt. „Eine Gruppe von Männern und Frauen“ wie es im Personenverzeichnis des „Schwarzen Wassers“ heißt, trägt die Handlung: neun junge Leute genießen den Sommer und übersteigen nachts den Zaun zum Freibad, wo sie im „schwarzen Wasser“ schwimmen – Anfang eines erotischen Abenteuers, das Frank und Leyla im Lauf der Nacht ausschöpfen.
Zwanzig Jahre später treffen sich die beiden an einem regnerischen Abend wieder – Frank will nach Hause, um den 75. Geburtstag seines Vaters zu feiern, eines namhaften Juristen, der sich im Innenministerium einen Namen gemacht hat. Frank selbst soll nach erfolgreicher Karriere am nächsten Tag ins Amt des Ministers eingeführt werden. Sein Herkommen aus bester Familie wie seine fundierte, konservative Bildung bürgen für eine solide Grundlage für seine Laufbahn. Der Hinweis auf das Herkommen von Franks Vater, auf das Innenministerium, weist darauf, dass hier eine Politik des Generationen überdauernden Beharrens entworfen wurde, die mit durchschlagendem Erfolg gekrönt wird.
Leyla, der Frank ein wunderbares Liebesgedicht gewidmet und geschenkt hat, ist Kassiererin. Der Klassenunterschied ist für das Drama (wie für Schillers „Kabale und Liebe“, in Mannheim uraufgeführt) konstitutiv.
Auch bei den anderen jungen Leute bilden sich Paare – für einen Moment eröffnet sich die die Möglichkeit der Gleichheit: „Sie tauchen,/geräuschlos,/in die Dunkelheit,/sie tauchen/nebeneinander miteinander/in eine Welt/ohne Sprache,/ohne Vergangenheit und Zukunft,/und ohne Rembrandt/und ohne Barbarossa,/ohne Nachtwächter und ohne Zaun,/ohne Herkunft, Bankkonto, Beruf des Vaters, Bildung,/Satellitenschlüssel, Jesus und Mohammed/in eine Welt ohne Anwälte,/Mietwucher,/Schnellimbisse, Großbäckereien, Fleischimperien,/und ohne Schulabschlüsse,//in eine Welt/in der nichts zählt/als die Zeit/die dir zum Atemholen bleibt …“ (S, 58. f.) Der Nachwächter denkt, diese Nacht sei „eine Nacht im Paradies,/und wir sind alle Gottes Kinder.“ (S. 62 f.) – Doch Gottes Kinder werden aus dem Paradies vertrieben, die Pforten schließen sich. – 20 Jahre nach diesem Moment trifft, wie gesagt, Frank an dem Abend vor seiner Amtseinführung als Minister Leyla zufällig (!) auf der Straße; es regnet (!!). Die beiden erkennen sich und Leyla bricht weinend zusammen. Frank hebt sie auf und begleitet sie durch den Regen nach Hause – er wird pitschnass. Er kehrt zu spät nach Haus zurück – seine Nase blutet. Hat Leyla ihm einen Hieb verpasst? Zumindest hat sie ihm sein Liebesgedicht zurückgegeben: „In deinen Augen liegt//der Himmel, in den wir tauchten,/in jener Nacht//Und ohne dich/bleibt nichts davon zurück,/und ohne dich/wird nichts davon bleiben, nichts als Dunkel//bleibt nichts zurück als Dunkel.“ S. 132f.)
Mit diesen Versen endet das Schauspiel, „Dunkel“ ist das letzte Wort, und auf der Bühne wird, wenn die Scheinwerfer erlöschen, ebenfalls nur Dunkel bleiben – Dunkel, das zeigt, wie die Hoffnung auf Veränderung, auf Verbesserung sich in nichts auflöst. Dunkel: die Verhältnisse, dunkel die Perspektive. Schimmelpfennig wird pessimistischer.
„Das schwarze Wasser“ ist ein politisches Stück, fast so politisch wie Schimmelpfennigs „Goldener Drachen“, eine Anklage der deutschen Gegenwart – Frank ist nicht umsonst der Protagonist. Schimmelpfennig zeichnet einen Mann, der das Ideal seiner Jugend verrät, um Minister zu werden.
Die Bildung der herrschenden Klasse steht nicht im Dienst der Menschlichkeit, der Gleichheit, sondern zementiert die herrschenden Verhältnisse. Wenn Schimmelpfennig im „Goldenen Drachen“ Partei für den Sans Papiers aus China ergreift, so greift er im „schwarzen Wasser“ vor allem die Unterprivilegierung von Türken an. Er macht deutlich, dass diese Hintanstellung überall zu erkennen ist, sie niemand übersehen kann: während Frank in einem Haus groß wird, das viel Platz bietet, in einem bevorzugten Viertel liegt, umgeben von Gärten, wächst Leyla in beengten Verhältnissen auf. Beide wohnen in einer Stadt – in getrennten Welten.
Schimmelpfennig zeichnet im „schwarzen Wasser“ die Bundesrepublik als Klassengesellschaft. Die Herrschenden betonieren sie nicht mit Gewalt – schlimmer: obwohl es Möglichkeiten gibt, ganz konkrete Möglichkeiten, die Klassenschranken zu überwinden, bleiben diese Möglichkeiten ungenutzt. Herzensenge und Engstirnigkeit festigen Mauern über die Generationen. Schimmelpfennigs Theater will das bewusst machen, Herzensenge, Engstirnigkeit und damit die Klassengesellschaft überwinden. Hier erweist sich Schimmelpfennig einmal mehr als engagierter Dramatiker, seine Dramaturgie als emanzipatorisch.
„An und Aus“, eine Auftragsarbeit für das New National Theatre, Tokyo wurde dort uraufgeführt. Die dahingetupfte Tragödie kreist um die Katastrophe von Fukushima: Das Licht, das sonst ständig und sicher scheint, erlischt, das Radio läuft – auf einmal wird es unterbrochen – warum?
Im Mittelpunkt der kaum angedeuteten Handlung steht ein junger Mann, der ein Hotel betreibt; in den wenigen Zimmern treffen sich Liebespaare. Schimmelpfennig konzentriert die ersten Szenen des Zweiakters auf die diskret angedeuteten Liebesbeziehungen, im zweiten Teil rückt er rätselhafte, märchen- und zauberhafte Veränderungen in den Mittelpunkt: eine Frau bekommt zwei Köpfe, ein Mann verwandelt sich in einen Fisch. Wie in der „Arabischen Nacht“ erscheinen die Verwandlungen träumerisch, in „An und Aus“ dominieren Alpträume. Immer wieder nimmt der junge Mann des Hotels, der auch als Portier fungiert, Bezug auf ein bekanntes japanisches Bild, dessen Kopie hinter ihm hängt.
Dieses welt“berühmte Bild“, Hokusais „Große Woge“, ist ein wichtiger, oft wiederholter Schlüssel zum Verständnis – ein Hinweis auf die Flutwelle, in deren Folge sich katastrophale Unfälle und schwere Störfälle im japanischen Kernkraftwerk Fukushima ereigneten. Das Bild friert einen Moment ein, die Welle auf ihrem Kamm, der bedrohlichste Augenblick, im Gemälde verewigt. Sie zerstört das Leben der Liebenden, auch des jungen Hoteliers und seiner Freundin.
Die im Text angedeuteten Alpträume erlauben dem Regisseur und dem Ensemble große Freiheiten, aber auch dem Publikum sich vorzustellen, was den Betroffenen geschehen sein könnte. Das Stück ist eine Warnung vor der Atomkraft , die auch in Deutschland zu einem Umdenken geführt hat. Hier bekommt die japanisch-deutsche Theater-Zusammenarbeit ihre überzeugende Begründung.
[Eines der hervorstechendsten Merkmale von Schimmelpfennigs Stil, die Reduktion, die Konzentration auf das absolut Notwendige, wird schon im extrem verknappten Titel „Ein und Aus“ deutlich. Die drei Worte sind auf der Bühne leicht umzusetzen: Wenn zunächst das Licht an ist und dann ausgeht, ist das Erlöschen ein Zeichen für den Unfall. Das Kraftwerk fällt aus, es kann keinen Strom liefern. Kürzer und knapper, aber auch prägnanter kann auf den Unfall kaum hingewiesen werden. Das Bühnenpersonal nimmt zwar den Stromausfall zur Kenntnis, weiß aber nichts über die Ursache – und ahnt noch nichts von den katastrophalen Folgen für sie. Ebenso wenig das Publikum. Erst am Ende kann es erkennen, was geschehen ist – das Stück, seine Dramaturgie, sensibilisiert die Wahrnehmung der Zuschauer*innen – eine der zentralen Wirkungsabsichten Schimmelpfennigs.
Seine internationale Reputation wird ein weiteres Mal unterstrichen, wenn er vom führenden japanischen Schauspiel aus dem fernen Tokyo einen Stückauftrag erhält – und sich mit einem Stück bedankt, das ein gewichtiges japanisches Thema behandelt, ein japanisches Thema, das für die ganze Welt bedeutsam ist und insbesondere für Deutschland gravierende politische Folgen hatte.]
„An und Aus“ ist, darauf weist schon der Titel hin, ein minimalistisches Stück. Die Szenen des Zweiakters sind kurz gehalten, der Dialog besteht aus einfachen, knappen Sätzen. Wichtiger noch als das Gesprochene ist die Hemmung der Figuren zu sprechen, ein Hinweis darauf, dass bedeutsamer als das gesprochene Wort das Unausgesprochene ist: Herausforderungen für Schauspieler.
SPAM, Fünfzig Tage, eine Auftragsarbeit für das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, 2014 uraufgeführt, Regie führte Schimmelpfennig. Die Erfahrung als Regisseur förderte die Arbeit als Dramatiker – er konnte seine Stücke geschmeidiger den Erfordernissen der Bühne anpassen.
Das Schauspiel ist rätselhafter als andere Stücke. Skizzenhaft umreißt Schimmelpfennig ein Grubenunglück in Afrika – erst auf starken Druck hin wird nach einem Verunglückten gegraben – und es kommen immer mehr Tote zum Vorschein. Die Grube ist nicht gegen Unfälle gesichert, die nächsten Toten sind absehbar. – Unverbunden daneben sieht der Zuschauer Menschen in Deutschland in einem ICE, die nach Hause wollen und telefonieren oder SMS schicken – banalste Botschaften, völlig unnötig, überflüssig.
Eine Verbindung zwischen den Themen könnte das Wort „Koltan“ herstellen – Coltan, eine der seltenen Erden, die benötigt werden, um Handys herzustellen. Der Zuschauer kann einen Zusammenhang konstruieren von der Gedankenlosigkeit, der Herzensenge der Europäer gegenüber dem Unglück ihrer Zeitgenossen in Afrika, die die Voraussetzung schaffen für ihre überflüssigen Telefonate – daher auch der Titel: „SPAM“.
Die Überzeugungskraft der Anklage ist beeinträchtigt, weil es keinen direkten Zusammenhang, eine Schuld der Telefonierenden am Unglück der afrikanischen Grubenarbeiter gibt – da wären ja noch der Bergwerksbetreiber, und die Leute, die Handel treiben, die an den Handys verdienen.
Allerdings evoziert Schimmelpfennigs dramatisches Arrangement den völligen Mangel an Empathie, die Gleichgültigkeit gegen die terms of trade, den Zusammenhang zwischen Erster und Dritter Welt – eine Gleichgültigkeit, die Schimmelpfennig auch in anderen Dramen thematisiert und anprangert.
Die Vermutung, dass Schimmelpfennig den Komplex Erste und Dritte Welt thematisieren wollte, stützt auch seine Notiz: „Berlin/LaHabana/2012/2013“ vor dem Personenverzeichnis. Trotz des Engagements: Eines der schwächeren Stücke Schimmelpfennings.
Ein weiterer Hinweis auf seine internationale Vernetzung ist „Wintersonnenwende“, eine Auftragsarbeit für das Royal Dramatic Theatre in Stockholm; dort wurde das Schauspiel 2015 uraufgeführt.
„Wintersonnenwende“ beginnt am 23. Dezember, also am kürzesten Tag des Jahres, am Tag vor dem Heiligen Abend in Stockholm. Schauplatz ist die Villa einer wohlhabenden nicht mehr ganz jungen Familie; der Hausherr ist ein angesehener Intellektueller, viele Bücher zeugen von seiner Produktivität und seinem (auch finanziellen) Erfolg. Seine Frau ist Filmemacherin; sie dreht Problemfilme, die sich nicht ans große Publikum wenden; ihre kleine Tochter, naiv, liebenswürdig, ein heiteres Bild unentfremdeten Lebens, freut sich mächtig auf Weihnachten.
Unter der Oberfläche der harmonischen Familie – wie könnte es anders sein im Land Strindbergs – lauern Abgründe. Corinna, die Mutter Bettinas, ist zu Besuch gekommen, und Bettina, die ihre Mutter liebt, aber vor allem auch hasst, macht ihrem Mann, Albert, schwere Vorwürfe, dass er der Schwieger/Mutter nicht entschieden(er) entgegentritt, wenn sie mal wieder ihrer Neigung zu Übergriffen nachgibt. Schon die Spannungen in der Exposition sind komplex und unterhaltsam. Die Frage steht im Raum: Wer siegt, die alte oder die junge Generation?
Die Handlung setzt ein, als es klingelt. Rudolph steht vor der Tür und fragt nach Corinna. Die hat den älteren, kultivierten und, wie sich herausstellt, höchst charmanten Herrn im Zug kennengelernt und gleich eingeladen, sie zu besuchen. Bettina ist außer sich wegen dieses Übergriffs ihrer Mutter – aber nur in der Küche, hinter verschlossenen Türen, ihrem Mann gegenüber. Derweil flirtet Rudolph mit der nur allzu bereiten Corinna und spielt glänzend Klavier, mit Vorliebe Bach und Chopin. Schimmelpfennig zeichnet zunächst Rudolph als konservativ, fügt dann den Argwohn erregenden Zug hinzu, er sei ein alter Nazi – und stattet ihn mit überlegener Durchsetzungskraft aus: als Albert, ein Neurastheniker, geschwächt von den ewigen Anwürfen seiner Frau und massivem Medikamentenmissbrauch, sich endlich ermannt, und Rudolph rauswirft – bleibt der Rauswurf ohne Folgen.
Wie so oft komprimiert Schimmelpfennig die Quintessenz seines Schauspiels im letzten Bild: „Rudolph setzt sich ans Klavier./Er spielt Bach, Prelude Nr. 1, C-Dur. /Das Wohltemperierte Klavier, Buch 1./Eine kalte Winternacht./Vor den großen Fenstern der Wohnung schneit es weiter./Der Weihnachtsbaum./Die leuchtenden Flammen der Kerzen./…“ (S. 177.f.)
Rudolph, der die Rechten, Altnazis, Vertreter einer verlogenen harmoniesüchtigen Kulturtheorie repräsentiert, ist es gelungen, den Widerstand gegen ihn und seinen reaktionären Standpunkt zu überwinden und ins Innere der liberalen Familie einzudringen. Der Schein des Weihnachtsbaums, der Kerzen trügt. Nach der „Wintersonnenwende“ werden die Tage wieder länger. Die stark ausgeprägte, eine Fülle von Konflikten andeutende Handlung legt nahe, dass Schimmelpfennig die Tage der Rechten meint, die in winterlich unbehaglichen Tagen unbehaust überwintern mussten. Diese Epoche geht zu Ende. „Wintersonnenwende“ ist, so verstanden, ein eminent politischer Titel. – Ein großartiges Stück voller Humor, das neben der detailliert ausgearbeiteten Handlung vor allem auch wegen seiner plastischen Charaktere für Spannung und Unterhaltung sorgt. (In diesen Tagen, in denen ich diesen Aufsatz schreibe, im Juni 2023, zeugt dieses Stück Schimmelpfennigs von politischem Weitblick.)
„Diese Nacht wird alles anders – Discoteca Paraiso“ wurde nicht uraufgeführt, sondern als Hörspiel urgesendet – 2016 im SWR 2.Der Untertitel „Discoteca Paraiso“ erklärt, worum es geht: um die Hoffnungen, die Illusionen, die Diskotheken erzeugen. In dieser Nacht, in der alles anders wird, erscheint das Unmögliche möglich, vor allem Liebesgeschichten könnten sich erfüllen, ein Bund fürs Leben geschlossen werden, der hält und das Glück verbürgt: Endlich die oder den finden, den man von ganzem Herzen sucht. Einer Variation des Themas von „Die Linie zwischen Tag und Nacht“.
Dieser Kern ist ganz ernst, drumherum wird die Illusionsmaschine im großen Stil ironisch angeworfen: mit Kunstlicht, viel Alkohol und ohrenbetäubender Musik: „5 Barmänner, 3 Bulgaren, 2 Italiener und 24 Franzosen, 30 Spanier, 4 Kanadierinnen, 12 Schwedinnen und Schweden, Norweger, Russen, Dänen, Belgier, Engländer“ verspricht das Personenverzeichnis, vom „SCHWARZEN HUND“ zu schweigen. Alle sollen auftreten, gespielt von fünf Darstellern – keine leichte Aufgabe. Thema und Durchführung legen nahe, in hohem Maß choreographische Elemente neben die schauspielerischen zu stellen. Mutmaßlich sind diese Ausschweifungen beim Entwurf des Personals ein Grund, weshalb das Stück – wegen seines Themas, seines Settings, vor allem aber seines ausgeprägten Sarkasmus‘ reizvoll – noch nicht uraufgeführt wurde. Für das Hörspiel lädt es zu akustischen Ausschweifungen ein – das Stück ist (auch) in Havanna entstanden und hat in seiner Anmutung viel Karibisches.
Die Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater Mannheim setzte Schimmelpfennig mit dem „Großen Feuer“ fort; das Schauspiel war eine Auftragsarbeit, sie wurde 2017 uraufgeführt.
Im „Großen Feuer“ erzählt Schimmelpfennig übersichtlich die Geschichte zweier Dörfer, die sich an einem Fluss gegenüber liegen. Die Handlung, klassisch in fünf Akte gegliedert, beginnt im Frühling: das Verhältnis der beiden Dörfer ist harmonisch, ein Paar ist verliebt, sie aus dem einen, er aus dem anderen Dorf: „… diese beiden verliebten jungen Leute/sind wie gemacht füreinander//aber die Väter/hassen sich bis auf das Blut/seit einem Tag im letzten Mai.“ – Im Sommer verschlechtern sich die Verhältnisse rapide, aus dem Bach wird ein Fluss, die Dörfer scheinen sich voneinander zu entfernen. Dann bringt Dürre Not. Im Herbst vertieft sich der Konflikt, im Winter erst scheint das Eis, vor allem aber Weihnachten die Dörfer einander näher zu bringen: „… die beiden Glockenschläge/gefrieren in der Luft,/und werden eins,/ ein Ton, ein Singen liegt über dieser Nacht/ ein Schwingen, …“ (S.58).Doch das Stück endet pessimistisch: „Das große Feuer“. Einigen gelingt die Flucht, sie endet im Ungewissen: „keine rettende Küste ist in Sicht – da ist kein Ufer.//Das Boot treibt/auf dem offenen Meer.“ (S. 84).
Hauptgrund für die Konflikte ist das Wohlstandsgefälle zwischen den Dörfern. Doch mehr als die Unterschiede beschreibt Schimmelpfennig die Jahreszeiten, ihre Besonderheiten, ihre Schönheiten. Dabei unterlaufen dem sonst geschmackssicheren Schimmelpfennig Entgleisungen: „die Bienen summen,/die Zikaden zirpen/und die Fliegen/trompeten im Zickzack…“ (S.25) Das Stück hat wenig analytische Kraft und wirkt biedermeierlicher als bei Schimmelpfennig gewohnt. Die angedeutete Liebesgeschichte folgt der Konvention. Der Mangel an Originalität verweist „Das große Feuer“ auf die hinteren Ränge von Schimmelpfennigs Œuvre. Christian Gampert überzieht indes, wenn er in seinem Verriss (SWR) urteilt: „…der Parabel- und Märchenton (…) bekommt (…) einen penetrant belehrenden Beiklang. Er ist mittlerweile zu Stilblüten und Sprachklischees, zu einer zähen sakralen Soße geronnen. Die Flüchtlinge sind nicht auf dem Mittelmeer, weil zu Hause schlechtes Wetter ist oder die Scheune brennt. Ihre Gründe sind vielfältig – zu vielfältig für Roland Schimmelpfennig, dessen wahre Größe wohl die Einfalt ist.“ – Befremdlich, dass der Südwestrundfunk solch einen Angriff ad hominem sendet. – Volker Oesterreich urteilte in der Rhein-Neckar-Zeitung ganz anders: „Der märchenhafte Ton hat stets etwas Schwebendes, Leichtes. Obwohl der Plot simpel gestrickt zu sein scheint, erzählt ‚Das große Feuer‘ viel von den Gefahren sozialer Kälte, populistischer Ausgrenzung oder eines präsidial verordneten Egoismus‘, der mit Parolen wie ‚America first‘ durch die Weltgeschichte zu poltern beginnt. Dass all dies in Schimmelpfennigs Text enthalten ist, macht seinen großen Wert aus.“
Besser gelang „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“, eine Auftragsarbeit für das Deutsche Theater Berlin, 2018 uraufgeführt.
Mit „Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ greift Roland Schimmelpfennig ein bei Dramatikern beliebtes Motiv auf: Doppelgänger – im deutschen Theater von Kleist vorbildlich im „Amphytrion“ durchdekliniert. Doch während Kleist den Unterschied zwischen Ideal und Realität, zwischen Göttern und Menschen ausmisst, untersucht Roland Schimmelpfennig das Potential, über das durchschnittliche Menschen verfügen, die Möglichkeiten, die sie sich erschließen könnten, von denen sie heimlich träumen.
Anfangs treten in einer ganz gewöhnlichen Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder (Zwillinge!) aus heiterem Himmel Doppelgänger auf, erst beim Mann, dann bei der Frau. Die Exposition ist etwas lang geraten, Schimmelpfennig nutzt sie, um zu untersuchen, ob diese Doppelgänger nur vom Original oder auch von den anderen wahrgenommen werden. Der Clou liegt am Ende: Mitten in der Nacht steht der Doppelgänger auf, um einen Ausflug in eine verruchte Bar zu unternehmen; sein Original, verunsichert, folgt ihm. Im „Schwertfisch“ treffen sie auf eine rothaarige Sängerin, die ebenso verrucht ist wie die Bar. Sie singt das Lied von der „doppelten Haushaltsführung“: „Wenn du nicht da bist, wo du bist,/wo bist du dann, bist du dann da,/wo du nicht bist, bist du doch da,/und bist es nicht, wo du auch bist/und bist es nicht,/ und bist es doch,/und bist es nicht,/und bist es doch,/und bist es nicht/und bist es doch,/und bist es nicht.“ (S. 83).
Das Rätsel, das schon der Titel andeutet, löst sich, wenn das Publikum erfährt, dass die rothaarige Sängerin gar keine roten Haare hat, sondern eine Perücke trägt – und dass sie die uns wohlbekannte Frau (und Mutter) ist; die Frau hat schöne Beine und eine gute Stimme, das wurde ihr schon als junges Mädchen versichert. Deshalb fühlte sie sich mit ihrem Mann und den Kindern keineswegs ausgelastet und zufrieden, sie hat immer davon geträumt, Sängerin zu werden. Auch ihr Mann träumt, er hätte gern Abenteuer erlebt – die DER MANN 2 beherzt unternimmt.
Nach dem Ausflug in den Schwertfisch endet das Stück nach den Ausschweifungen der Nacht beim Frühstück, scheinbar ganz normal, wie immer, im kleinen Haus mit dem kleinen Garten. Aber nichts ist, wie vorher. Da kann auf einmal FRAU 2 hereinkommen, nur mit dem Pyjama-Oberteil bekleidet, und anfangen, sich die Fußnägel zu lackieren. „Niemand nimmt Notiz von ihr.“ (S. 103) – Aber sie ist doch da und alle wissen es, auch die Zwillinge.
„Der Tag, als ich nicht ich mehr war“ ist eine geistreiche Komödie, die darauf hinweist, dass die Realität stets erweitert wird von den Möglichkeiten, die uns innewohnen, von den Träumen, die uns begleiten. Der Titel, der erst etwas umständlich klingt, löst ein, was er verspricht – die ungewöhnliche Stellung des zweiten „ich“ lässt stolpern, stolpern in die zweite Sphäre der Realität, die uns neben der ersten beständig umgibt. Das Lied von der „doppelten Haushaltsführung“ fasst das Problem prägnant zusammen. – Schimmelpfennig versucht sich immer wieder als Lyriker, ist als Silbenstecher aber wenig erfolgreich. Wer vermutet, Schimmelpfennig vergleiche sich mitunter mit den besten seiner Zunft, sollte bei Liedern kritisch anmerken, dass er hinter Brecht, von Shakespeare nicht zu reden, zurück bleibt. Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas: Doch dieses Lied kann sich hören lassen. Es fasst, mit Humor, zusammen, worum es im Drama geht.
„100 Songs“ erblickte, ungewöhnlich für Schimmelpfennig, nicht in einem Zentrum das Licht der Theaterwelt, sondern in der Provinz, genauer in der schwedischen Provinz; das Stück, vom Länsteater Örebro in Auftrag gegeben, wurde 2019 uraufgeführt. Die „100 Songs“ sind ein ungewöhnliches Hohes Lied auf das Leben.
Das Stück beginnt mit einer ausführlichen Regieanweisung: „Eine Gruppe von Männern und Frauen betritt die Bühne./Das sind ganz normale Leute …“ Diese geschriebene Regieanweisung wird dann, zunächst stockend, gesprochen – “ EIN MANN: Eine Gruppe von Männern und Frauen …“ – Diese Doppelung bewirkt, dass die Zuschauer bewusster wahrnehmen (können), was sie auf der Bühne sehen. Dies ist ein Ziel Schimmelpfennigs: Die Wahrnehmung zu schärfen. Achtsamkeit!
Die szenische Situation ist hochdramatisch. Um 8.55 Uhr fliegt ein Zug in die Luft. Das Stück stellt verschiedenste Leute vor: Die Frau am Buffet des Bahnhofs, der eine Tasse herunterfällt; der alte, steinreiche Mann; der Pastor, der bedrückt ist, weil er ein Kind begraben soll; ein Mann, der höchst befriedigt ist, weil er am Morgen Sex hatte, usw. Keiner weiß, dass der Zug gleich in die Luft fliegen wird – und das Stück hält die Zeit an. Schimmelpfennig betont die Diskrepanz zwischen objektivem Zeitablauf und subjektivem Zeitempfinden: Stillstand, die Uhr wird auch mal eine Minute zurückgestellt. „100 Songs“ spielt meistens zwei oder eine Minute, bevor die Katastrophe eintritt.
Die meisten der 22 Szenen, die gleichermaßen gespielt wie beschrieben werden – wie schon am Anfang bei der Regieanweisung – zeigen banale Situationen – aber mitunter frönt Schimmelpfennig auch seiner Fabulierlust: er ersinnt völlig unwahrscheinliche Figuren und Situationen aus allen Teilen des Globus: der Bahnhof soll die Welt bedeuten. Ein andermal ringen Figuren um Sinn: gibt es einen Sinn im Leben oder nicht? Die Frage wird von verschiedenen Spielern verschieden beantwortet, sie bleibt offen.
Erst nach der umfassenden Beschreibung der Situation, eine oder zwei Minuten vor der Detonation, knallt es: „EIN ANDERER MANN: Acht Uhr fünfundfünfzig./Pause./Und dann – zerreißt es die Welt./Trillerpfeife/Ein Streichholz. /Die zerspringende Tasse./Pause.
EINE FRAU Also das -/EINE ANDERE FRAU Das ist nun wirklich nicht zu beschreiben -/ Pause/ EIN MANN Nein/ EIN ANDERER MANN Nein, das kann man nicht beschreiben – …“ (S. 57 f.)
Tatsächlich verzichtet Schimmelpfennig im Stück auch darauf, die Explosion zu beschreiben – das Publikum kann sich die Situation vorstellen, es reicht die Andeutung. Das Umeinanderfliegen von Leichenteilen und Trümmern, Höhepunkte bei Hollywoodfilmen, würde in Schimmelpfennigs Drama nur stören, weil es vom Wesentlichen ablenken würde.
Denn das Stück endet nicht als Tragödie. Ein Epilog fängt die Situation auf: Die Tasse fällt nicht zu Boden, zerspringt nicht in tausend Splitter, sie wird im letzten Moment aufgefangen. Sally bekommt das letzte Wort: „Das war wirklich knapp. … Danke, vielen Dank.“ (S. 63)
Die Wirkung ist stark: gerade, weil die Figuren eben dem Tod entronnen sind, wird der Wert des Lebens tief(er) empfunden – und die banale Art des Dahin-Lebens, die Schimmelpfennig und sein Ensemble das ganze Stück über beschrieben haben, wird als falsches Leben kenntlich gemacht. Das richtige Leben müsste den Wert des Lebens, jeden Augenblick, ganz anders, als nicht selbstverständlich, als Wunder empfinden, würdigen, bewerten.
Wie der Titel schon sagt, spielen „Songs“ eine große Rolle, den meisten Figuren wird ein Popsong zugeordnet. Sie könnten als Zeichen der Oberflächlichkeit gedeutet werden – nur selten gibt es die Einspielungen klassischer Musik, Chopin und Brahms: keine Songs. Hier markiert Schimmelpfennig den Unterschied scharf: unbedachter Zeitvertreib entspricht den Popsongs, die klassische Musik einem tieferen Empfingen über das Wunder des Lebens.
Die „100 Songs“ sind ein ungewöhnliches Hohes Lied auf das Leben.
Auffällig ist, bei wie vielen Stücken Schimmelpfennig „Auftragsarbeit“ vermerkt – so erhält ein Theater das Stück eines namhaften Autors zur Uraufführung – der Autor ist sicher, dass sein Stück an einer renommierten Bühne uraufgeführt wird und bekommt vorab, gewissermaßen für die Zeit, in der er schreibt, einen Betrag für seine Arbeit, seinen Lebensunterhalt – ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, das die Last von den Schultern des Autors nimmt: die finanziellen Sorgen während der Arbeit wie die Unsicherheit, ob sein Stück ein Theater findet. Auch das Bayerische Staatsschauspiel fand sich zu diesem Geschäft bereit: „Der Riss durch die Welt – 170 Fragmente einer gescheiterten Unterhaltung“ ist eine Auftragsarbeit, die Fragmente wurden am 2019 im Residenztheater (Cuvilliés) uraufgeführt.
Im „Riss durch die Welt“ fasst Schimmelpfennig die Gründe für die Konflikte in all seinen Stücken in einer einzigen, eindrucksvollen Passage zusammen – kurz und bündig: „Es kommt keine Strafe. Es gibt keine Strafe. Gott/straft niemanden. Gott straft schon lange keinen mehr./Der Riss geht durch die Welt, wie Sie sagen./Die Gesellschaft bricht auseinander./Der Versuch, soziale Differenzen, kulturelle Unterschiede und ökonomische/Abgründe zu überwinden, scheitert an Ängsten, Vorurteilen, Faulheit,/Einfallslosigkeit, Nationalismus, letztlich aber an der Habgier, an den/ökonomischen Mechanismen des Marktes und des globalkolonialen/Denkens./So einfach./So einfach ist es./Es geht nicht um Kulturen. Es geht nicht um Blut. Oder um Müll. Oder/ um Rauch und um eine rote Sonne. Tote Fische. Es geht um Geld. Am Ende/geht es immer um Macht, und es geht um Geld, denn Geld ist Macht./ Die erste Welt versklavt die dritte Welt. Die Oberschicht versklavt die Unterschicht.“ (S. 20).
Schimmelpfennig charakterisiert mit diesem Monolog TOM schon am Anfang des Schauspiels. TOM ist unermesslich reich, „über sechzig“ (Personenverzeichnis, S. 3), noch viril und Besitzer eines herrlichen Anwesens, in dem er zusammen mit seiner Frau SUE lebt, die etwa 20 Jahre jünger ist als er. Die beide haben Gäste: SOPHIA („um die dreißig“) und JARED („Anfang bis Mitte 20“ ) (ebda.)
SOPHIA ist Künstlerin und will mit TOM und SUE ihr Projekt besprechen: „Schwermetalle./Abfall./Kadaver/Haar, Fell,/Blei./Quecksilber./Öl./Krieg. Ein ganzer Fluss aus Plastik und Metall und Öl./Ein sich bewegender Müllberg, eine brennende Müllwelle, die sich das/Flussbett hinunterwälzt./ Ein Riss./Eine klaffende Wunde./Der Riss durch die Welt.“ (S. 7.)
„Der Riss durch die Welt“ – auch der glücklich gewählte Titel der 170 Szenen – bestimmt die Handlung. Der Hauptkonflikt besteht zwischen Tom und Jared: Alt und Jung, es gibt erotische Spannungen, die beiden Männer senden und bekommen Signale von der Frau des je anderen; reich und arm; klug und borniert; hochgebildet und bildungsfern; gewieft und aggressiv – der Konflikt ist unüberbrückbar. Wie bei den Frauen: SOPHIA wirft in einem inneren Monolog SUE vor, sie liebe TOM nicht, sondern habe sich ihm eigensüchtig genähert, egoistische Motive seien ausschließlich ihr Beweggrund.
Im Lauf des Stücks werden viele der Konflikte durchgesprochen, angesprochen, ausgesprochen – analysiert. Aber wie Schimmelpfennig schon im Untertitel feststellt: die Unterhaltung scheitert.
Mit dem Kunstwerk, das SOPHIA plant, erinnert Schimmelpfennig ganz bewusst an die zehn Plagen, die der Herr im Alten Testament schickt, um Moses Forderung Pharao gegenüber Nachdruck zu verleihen, sein Volk gehen zu lassen. „Der Riss durch die Welt“ lässt offen, ob Sophias Kunstwerk realisiert werden wird – es ist aber nicht wichtig: es würde grundsätzlich nichts ändern.
Die „gescheiterte Unterhaltung“ endet, wie das Publikum erfährt, wenn MARIA, die Haushaltshilfe, die Scherben aufkehrt, nicht. Sie dauert an. Kunst und Macht sitzen nebeneinander. Der radikalste Entwurf dürfte nichts ändern – weder in der bildenden Kunst noch im Theater.
„Der Riss durch die Welt“ ist ein wahres Meisterwerk.
„Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit nach dem REIGEN von Arthur Schnitzler“, eine Auftragsarbeit für das Staatstheater Stuttgart, wurde dort 2021 uraufgeführt.
Schimmelpfennig hat sich für seine „Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit“ von Arthur Schnitzlers „Reigen“ anregen lassen, wie er im Untertitel vermerkt. Die Form ist ähnlich, die Kreisform des Reigens beibehalten, ähnlich ist auch das Thema, es geht um Sexualität und die damit verbundene Hierarchie, das Herr-Knecht-(oder besser: Herr-Magd-)Verhältnis, das sich stets gegen die Liebe, die Gleichheit fordert, durchsetzt. Ganz anders als Form und Thema sind die indes einzelnen Szenen und Figuren.
Gleich am Anfang treffen sich Alejandra und Martin. Zwar handelt es sich hier wie bei Schnitzler um eine Prostituierte und einen Soldaten, doch Alejandra kommt aus dem Nahen Osten, in dem Martin gekämpft hat. Alejandra dankt Martin, er habe für sie und ihre Freiheit, ihr Leben gekämpft. Sie oder er ist ein Transsexueller – das würde in seinem Heimatland nicht geduldet. Er hätte mit empfindlichen Strafen zu rechnen, vielleicht sogar mit dem Tod – ein Leben, in dem er sich zu seiner Sexualität hätte bekennen können, hätte er gar nicht führen können. SieEr dankt ihm für seinen Kampf und erlöst ihn von seiner tiefen Depression mit gutem Sex.
Den Klassenunterschied, den Schnitzler vorgibt, thematisiert Schimmelpfennig mit einem Online-Date. Eine Dame der besseren Kreise hat die Online-Einladung eines jüngeren Mannes angenommen – dem sie um die Ohren haut, was sie von ihm, dem Niedrigeren, hält: „NINA: Die Musik ist peinlich./Der Wein ist ein Chardonnay aus dem Supermarkt, …/ und die Wohnung ist das, was sie ist./Nett, sauber, keine Klasse./In den Regalen wenig Bücher, schlechte Filme, hauptsächlich/Serien./…/Der Mensch, der hier wohnt, also du, lebt ein kümmerliches/Leben, vermutlich, in Anbetracht der mit diesem Lebensstil/verbundenen Kosten und dem dahinter anzunehmenden eher nicht/besonders hohen Bildungsniveau haben wir es mit einem/leitenden Angestellten auf mittlerem Niveau zu tun.“ (S. 76) – Diese schneidenden, hochmütigen, Bemerkungen sind nicht eben geeignet, die Erektion Franks zu befördern. Aber NINA schiebt tröstend hinterher: „Aber: geiles Profil. Geiler Körper.“ (ebda.)
Diese Szene macht, wie die anderen, indes zugespitzt, überzeugender deutlich, dass Klassenunterschiede seit den Jahren Schnitzlers bis heute nicht aufgehoben wurden, nur die Form gewechselt haben.
Sex ist auch heute noch Handelsware – das wird in Szenen gegen Ende deutlich, die sich um darstellende Künste drehen. VIVIANE ist „Schauspielerin, um die Fünfzig“ und bändelt mit NICK an, einem zwanzig Jahre jüngeren Drehbuchautor. Sie möchte von ihm Sex und ein gutes Drehbuch, in dem er ihr eine Rolle auf den Leib schreibt. Er ist bereit, ihr zu Willen zu sein, wenn sie ihre früher einmal erstklassigen Beziehungen spielen lässt, um ihn zu fördern. Die Skizze ist randscharf geschrieben; auch wenn von Neigung und Anziehung die Rede ist, weiß der Zuschauer, welche Absicht hinter den Annäherungen steckt. Und mehr: selbst dort, wo Kunsteinrichtungen den Missstand zum Thema machen und ihn anprangern, dauert er fort. Die Kunst bleibt im wirklichen Leben folgenlos.
In Zeiten des Regietheaters, in denen Regisseure sich zu Herr*innen des Theaters aufgeschwungen haben, ist diese Anlehnung Schimmelpfennigs an Schnitzler bemerkenswert. Üblicherweise hätte ein durchschnittlicher Regisseur an einem durchschnittlichen Theater seine Inszenierung „nach Schnitzlers ‚Reigen'“ genannt und dann die ein oder andere Aktualisierung eingeflochten – das Ergebnis wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Inszenierung, bei der der Text hintere Schnitzlers weit zurückgeblieben wäre. Schimmelpfennig geht anders vor: er bearbeitet erst einmal das Stück, besser: lässt sich vom Thema des Stücks und seiner Form anregen, um dann zu aktualisieren. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Schimmelpfennig kann sich mit Schnitzler messen. Die einzelnen Szenen sind so glaubhaft und aktuell, dass sie, ohne je hinter Schnitzler zurückzufallen, dessen Befund auch für unsere Epoche beglaubigen: Liebe und Sexualität werden in den Dienst der Macht gestellt und verlieren so ihre heilsame und glückstiftende Funktion. Schimmelpfennigs „Skizzen“ sind allerdings nicht so ernst wie Schnitzlers, regen auch nicht so auf, weil das Thema nicht (mehr) so stark mit Tabus behaftet ist und Skandal hervorruft – diese Gravität gleicht Schimmelpfennig mit Humor, Ironie und Sarkasmus aus. Das Schauspiel ist eine Farce – der tragische Generalbass sollte nicht überbewertet werden.
Wie Schnitzler gelingt es auch Schimmelpfennig mit den reigenförmig angeordneten Szenen eine ganze Gesellschaft, eine ganze Epoche zu beschreiben. Schimmelpfennigs Quintessenz, so heiter sie dargeboten wird, ist doch düster: Wenn auch Tabus in den letzten hundert Jahren beiseite geräumt sind – die sexuelle Revolution war keine. Die erhoffte Befreiung blieb aus.
„Es ist auffällig, wie häufig Schimmelpfennig Kriegsmetaphern zitiert, wie er verstörende Bilder zeichnet, in denen er die sexuelle Konnotation von Gewalt und Zerstörung offenlegt und dabei mit der verführerischen Faszination von Grenzüberschreitungen spielt. (…) Schimmelpfennig entlarvt männliche Sexualfantasien und erzählt von der Angst der Männer vor dem Kontrollverlust. Er beschreibt eindeutige Situationen von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Aber er zeigt auch die ethischen Graubereiche und ihre emotionalen Ambivalenzen.“ (Ingoh Brux über SIEBZEHN SZENEN AUS DER DUNKELHEIT im Theater heute Jahrbuch 2020).
Nur einen Monat später folgte, ebenfalls am Bayerischen Staatsschauspiel in München, im Residenztheater, die Uraufführung von Der Kreis um die Sonne, ebenfalls eineAuftragsarbeit.
„Der Kreis um die Sonne“ ist ein Stück über das Prekäre des menschlichen Lebens, um die Gefahr in jedem Moment, um die Möglichkeit des Todes – mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen – oder der Krankheit. Es kann als Stück über die Corona-Epidemie gelesen werden.
Im Mittelpunkt steht ein ausgelassenes großes Fest. Jede/r kann kommen, der mag, es ist eng geworden; die Gäste trinken und tanzen, diskutieren und flirten, die Stimmung ist hervorragend. Kein Wunder, dass in dem Gedränge dem Mann, der auf seinem Tablett Getränke jongliert, die Gläser entgleiten und zerbrechen. Ein starkes Bild für das Gefährdete inmitten der Ausgelassenheit. Ein zweites sprechendes Symbol ist die Beschreibung einer Sonnenfinsternis: „EINE FRAU/Jemand erzählt von einer Sonnenfinsternis, die er auf/einer Pyramide in Mexico erlebt habe, vor mehreren/Jahrzehnten./ Der Mann sagt: Als habe jemand ein schwarzes Loch in den Himmel gebrannt.“ // DER MANN/ Als habe jemand ein schwarzes Loch in den Himmel/gebrannt./Es ist kurz vor Mittag, und der Tag wird zur Nacht. Es/wird plötzlich kalt. Und die Vögel hören auf zu singen./Und alles, was man an dem schwarzen Himmel noch sah,/war ein gleißend heller Kreis.“ (S. 116) – Auf diese Sonnenfinsternis, auf diese Textstelle bezieht sich der Titel.
Das Talent Schimmelpfennigs erweist sich immer wieder in der Aufnahme aktueller Themen, aber auch großer Stoffe der Theater- und Literaturgeschichte, die ihn reizen, weil er sie neu zu deuten weiß. Theaterleute in aller Welt schätzen dieses rare Talent und gehen das Risiko ein, ihm Aufträge zu erteilen, weil sie guten Grund zu der Annahme haben, dass Schimmelpfennig ein Stück glückt, das ihren Spielplan bereichert, weil es im Publikum wie bei der Kritik für Diskussionen sorgt.
Insofern war der Auftrag, ein fünfteiliges Antikenprojekt für das Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, eine konsequente Fortsetzung und ein Höhepunkt. Schon der Entwurf setzt Maßstäbe.
Am Beginn steht ein „Prolog“, in den Mittelpunkt rückt Schimmelpfennig Stille. Eines seiner am virtuosesten genutzten Kunstmittel ist die Aussparung. Gesagt, ausgesprochen, wird nur das Allernotwendigste, das Meiste beschwiegen. Wie entsteht eine Sage? Wie kommt Dionys in die Welt? Wind spielt eine Rolle, Staub, Dürre, viel Sonne – und die Fabulierlust, die die Griechen in hohem Maße besaßen und besitzen (EU-Beitritt), wie auch Schimmelpfennig, um die Lust am Erfinden und Erzählen gleich darauf wieder mit preußischer Disziplin zu beschneiden, fast bis zum Verstummen – wie Samuel Beckett, um Platz zu schaffen für die Phantasie des Publikums. In der „Antigone“, dem Schlussstück, sagt der Chor: „… er, der Mensch, der Erfinder …/Aus dem Nichts/erschafft er Worte/er beherrscht Sprachen/seine Gedanken sind so schnell wie der Wind/…“ (Anthropolis, S. 427).
Der auf den „Prolog“ folgende „Dionysos“ war unter dem Titel „Bacchen von Euripides“ schon 2016 uraufgeführt worden (s. o.). Nach „Dionysos“ kommt als zweiter Teil „Laios“. „Laios“ war, der griechischen Mythologie zufolge, Ödipus‘ Vater. Laios und seine Frau Iokaste fürchteten sich vor ihrem Sohn, denn ihnen war prophezeit worden:
„Laios,
dein Sohn wird dich töten
und dich, Iokaste,
dich wird er heiraten
und dann schwängern.
Dein eigener Sohn
wird dich schwängern.“
(Anthropolis, S. 145 f.)
Tatsächlich, so erzählen die alten Griechen, traf Ödipus Laios, ohne ihn als Vater zu erkennen, auf dem Weg nach Theben und erschlug ihn wegen des Streits um den Vorrang.
Schimmelpfennig forscht Laios nach – wer war dieser Mann? Bruchstücke aus verschiedenen Quellen des klassischen Altertums legen nahe: Er stammte offenbar aus dem Königsgeschlecht von Theben, wurde aber bei Wirren zu einem anderen Herrscher verschlagen, musste dort als Junge und junger Mann niedere Dienste im Stall verrichten, ehe der König ihn zum Gefährten des Prinzen machte.
Die beiden waren Tunichtgute – Schimmelpfennig macht sich einen Spaß daraus, sie in die Nähe der englischen Prinzen unserer Gegenwart, allen aus den bunten Blättern wohlbekannt, zu rücken. Laios und sein Gefährte kommen nach Theben und werden dort willkommen geheißen. Die Thebaner suchen einen König und wählen Laios, obwohl der sich keineswegs bereit erklärt, die Rechte der Bürger zu achten.
In der Luft, so heißt es im stark lyrisch geprägten Text, soll eine Katze fliegen – eine Anspielung auf die Sphinx, die den Fluch verkörpert, der auf Theben lastet.
Trotz der düsteren Prophezeiung, ihr Sohn werden den Vater töten und die Mutter heiraten, zeugen Laios und Iokaste einen Sohn – als er zur Welt kommt, wollen sie sich seiner entledigen. Ein Knecht soll den Säugling in die Wüste bringen und dort aussetzen – er soll verdursten, verhungern. Doch der Kindsmord gelingt nicht – Ödipus überlebt in der Nähe und will, zum jungen Mann herangewachsen, nach Haus, nach Theben zurückkehren. Auf dem Weg trifft er einen hochfahrenden alten Mann, den er tötet – er weiß nicht, dass er seinen Vater umbringt.
Die freien Stellen, die Auslassungen weisen darauf hin, dass Schimmelpfennig nicht nur literarisch ein Wurf gelungen ist („vorzüglicher Dramentext“, Stefan Grund), sondern er sich auch als Theater(bühnen)mann sui generis bewährt, also ein Dramatiker im umfassenden Sinn ist: er lässt Platz für Regieentscheidungen und Raum für Schauspieler. Schimmelpfennig stellt seinen gesamten Fünfteiler, nicht nur „Laios“, in die Tradition des Volkstheaters – und gibt Schauspielern – in diesem Fall Lina Beckmann – immer wieder Raum für Extempores, die denen Nestroys nicht nachstehen – gerade in „Laios“: Lina Beckmann ist allein auf der Riesenbühne. Die Schauspielerin schlüpft in verschiedene Rollen, meistens aber ist sie Lina Beckmann, die, in Brechtscher Verfremdung, auf die Figuren des Textes anspielt – meistens auf Laios. Manchmal ist sie so entfernt von dem Prinzen und späteren König, wie eine Frau des 21. Jahrhunderts von einer antiken Figur – wie könnte sie als Zeitgenossin von uns daran glauben, dass die Weissagung der Pythia wahr werden könnte? Aber dann berichtet sie, dass genau das passieren wird, dass Laios und Ödipus aufeinandertreffen, Ödipus Laios aus nichtigem Grund umbringt, ohne zu wissen, dass dies sein Vater ist, den er erschlägt.
Den Höhepunkt erreicht der Abend in dem Augenblick, in dem das Stück zu Ende geht, das Publikum von Laios Tod erfährt: ein Beifallssturm bricht los, der Löwinnenanteil für Lina Beckmann. Das Publikum ist begeistert, Standing Ovations, lauter Jubel. Eine bessere Uraufführung hätte Roland Schimmelpfennig sich für seinen „Laios“ nicht wünschen können.
Auf „Laios“ folgt als dritter Teil „Ödipus“, sehr viel bekannter als Laios. Während am Text orientierte Übersetzungen deutscher Graecisten schwer zu verstehen sind, gelingt Roland Schimmelpfennig eine neue kristallklare Fassung; er lehnt sich eng an Sophokles an.
Iokaste war nicht nur Ödipus‘ Gattin, sondern auch seine Mutter – das macht sie weltberühmt. Schimmelpfennig rückt ihr Plädoyer für den Kompromiss, für den Frieden in den Mittelpunkt des vierten Stücks („Iokaste“). Iokastes (und Ödipus‘) Söhne, Eteokles und Polyneikes, streiten um die Herrschaft über Theben. Polyneikes ist mit einer Streitmacht vor die Tore der Stadt gezogen, um sein Recht durchzusetzen: sein Bruder Eteokles hat ihm versprochen, nachdem er (Eteokles) ein Jahr über die Stadt geherrscht hat, die Königswürde dem Bruder zu übergeben – aber Eteokles ist nicht gesonnen, sein Versprechen zu halten. Krieg droht. Iokaste, die Mutter, sucht den Kompromiss, um das Leben ihrer Söhne und die Stadt vor der Zerstörung zu bewahren.
Dieses Plädoyer ist ein Meisterwerk – Schimmelpfennig entfaltet die Argumente, und, jedes unnötige Wort vermeidend, spitzt er zu:
„… ihr hattet keine Wahl,
wer eure Eltern sind,
aber jetzt,
jetzt und hier, jetzt
stellt euch das Leben vor eine Wahl,
ihr seid frei
ihr könnt entscheiden –
und jetzt könnt ihr nicht anders,
als euch umzubringen?
Ist das so?
Sind wir für immer schuldig,
gibt es keinen anderen Ausweg,
kein Vergessen?“ (Anthropolis, S. 368 f.)
Eine Rede gegen die Gewalt. Gegen den Krieg. Für den Frieden. Je stärker Schimmelpfennigs Sprache zur Lakonie tendiert, desto mehr steigert er die Energie des Ausdrucks. – Die Europäische Union fußt auf der Erfahrung ungezählter Kriege, deren Zerstörungen, der jahrhundertealten dauernden Machtkämpfe, die nicht ein für alle Mal gelöst werden konnten – um aus diesen Erfahrungen lernend zu resümieren: unsere Konflikte wollen wir nicht mehr gewaltsam lösen, nur friedlich, wir müssen, wir wollen nach Kompromissen suchen. Nie wieder Krieg!
„Anthropolis“ ist die Pentalogie der Europäischen Union, ihr Geist erweist sich als überlegen: Wohlstand und Frieden gegen Zerstörung und Tod. Doch soweit sind die Thebaner in „Iokaste“ noch nicht. Am Anfang des Stücks erzählt Iokaste von einer alten Frau, die auf dem Schlachtfeld die Leichen ihrer beiden Söhne sucht und sich zwischen sie legt, nachdem sie sie gefunden hat. Am Ende wiederholt Iokaste diese Episode, dann legt sie sich zwischen die blutverschmierten Leichen ihrer Söhne. Das Licht erlischt.
„Iokaste“ ist eine Tragödie. Eine uralte Tragödie gegen den Krieg – angesichts des Kriegs im Nahen Osten und in der Ukraine als vierter Teil von „Anthropolis“ brennend aktuell.
„Dionysos“, „Laois“, „Ödipus“, „Iokaste“ und zum Schluss „Antigone“ – Schimmelpfennig zeigte sich wieder auf der Höhe in Bezug auf Sprachmeisterschaft, Dramaturgie, Handlungs- und Figurenkonstruktion, aber er übertraf sein bisheriges Schaffen mit dem generationen- und epochenübergreifenden Bogen: von den Anfängen des abendländischen Theaters bis heute, vom Anfang der Geschichte Thebens bis zum Tod Antigones, dem Ende der Herrscherdynastie der Labdakiden.
Als Vergleich bietet sich Aischylos‘ „Orestie“ an, die Peter Stein 1980 für die Berliner Schaubühne übersetzte (und dort auch inszenierte) – aber während die „Orestie“ optimistisch mit der Begründung der Demokratie schließt, endet „Anthropolis“ tragisch – wird zur Mahnung, welche Folge die Unfähigkeit zum Kompromiss, zum Frieden nach sich zieht: den Untergang.
Zum Gravitationszentrum des gesamten Fünfteilers erhebt Schimmelpfennig den Konflikt von Krieg und Frieden – Männer plädieren meist für rücksichtslose Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs, für Sieg, Krieg; Frauen überwiegend für Kompromiss, Verständigung, Frieden.
Diese Parteinahme bestimmt alle fünf Stücke, sie arbeitet Schimmelpfennig heraus, verwandeln dieses uralte, bis heute Maßstäbe setzendes Erbe in bedrängendes Gegenwartstheater.
Der Zusammenhang zwischen Altertum und Gegenwart bildet die Grundlage für „Anthropolis“ – ein großer Wurf, der im deutschsprachigen Gegenwartstheater seinesgleichen sucht. Mit der Autorität der Alten erhebt Schimmelpfennig selbstbewusst für das Theater den Anspruch auf Deutungshoheit in unserer Gesellschaft, spricht sich eindeutig und unmissverständlich für Frieden aus.
Zeitungen und elektronische Medien räumen bei den Kritiken zur Uraufführung dem Fünfteiler auffällig viel Raum ein, die meisten Kritiker schreiben Elogen, z, B. Maike Schiller im Hamburger Abendblatt: „Das Theater … war lange nicht so relevant, lebendig, gegenwärtig und spektakulär“ und Irene Bazinger in der FAZ „grandios“. Dabei betonen die meisten Kritiker*innen die Leistung der Regisseurin, Karin Beier, ihre kühne Entscheidung als Intendantin für das Projekt findet kaum angemessene Berücksichtigung; auf die Regie folgen Elogen des Ensembles – der Dramatiker wird eher am Rand erwähnt – rühmenswerte Ausnahmen: Peter Kümmel in der „Zeit“ und Till Briegleb in der sueddeutschen.de. Briegleb hebt einen Hauptaspekt hervor: „Roland Schimmelpfennig erzählt in den fünf Teilen seines Theater-Epos ‚Anthropolis‘ erstmals die ganze brutale Geschichte von Theben.“
Roland Schimmelpfennig ist zur Zeit als Dramatiker im deutschen Sprachraum unübertroffen.