Roland Schimmelpfennigs „Laios“ in Hamburg uraufgeführt – Lina Beckmann gefeiert
HAMBURG. Roland Schimmelpfennig bewegt sich als Dramatiker sicher im unsicheren Raum zwischen Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge (Beispiele: „Die Arabische Nacht“, „Der goldene Drache“). Wo schmerzhaft spürbar jedwede Sicherheit mangelt, siedelt er sein neues Stück „Laios“ an, der zweite Baustein zu seinem Fünfteiler „Anthropolis“, zwischen dem Auftakt „Dionysos“ und dem dritten Teil „Ödipus“.
Laios war Ödipus‘ Vater – viel mehr ist wohl nur Kennern der altgriechischen Sagenwelt bekannt. Das war Roland Schimmelpfennig Grund genug, dieser mythischen Gestalt nachzuspüren – unter anderem in den Quellen der Alten, wobei er einer Prophezeiung einen Platz im Zentrum zuweist:
„Laios,
dein Sohn wird dich töten
und dich, Iokaste,
dich wird er heiraten
und dann schwängern.
Dein eigener Sohn
wird dich schwängern.“
Wie kommt es, dass Laios trotz des Fluchs mit seiner Frau ein Kind zeugte? Was ist das für ein Mann, der seinen kleinen Sohn dann, aus Angst vor der Weissagung, aussetzen lässt, damit er verdurstet, verhungert, Beute wilder Tiere wird?
Schimmelpfennig weiß darauf keine Antwort, er weiß es nicht besser als jeder Zuschauer, aber er denkt darüber nach. Sein Drama besteht aus einer Fülle von Mutmaßungen, die er mit der Überlieferung verknüpft, collagiert. Laios hatte Glück, er wurde gefunden, fand Zuflucht, – arbeitete als Junge im Stall, bevor er dem fremden König auffiel, der ihn dann mit seinem gleichaltrigen Sohn erziehen ließ: Waren die beiden Freunde, waren sie homosexuell, schweiften sie in einem Maße aus, der alle Spießerträume übertraf und die Zeitgenossen wie die Nachgeborenen zu gepfefferten Mutmaßungen reizte? – Neben diese Möglichkeit setzt Schimmelpfennig andere, es geht immer um Vernachlässigung. Jedenfalls wird auch Laios das Gegenteil eines guten Vaters, Schimmelpfennig zeichnet ihn als unverzichtbaren Mosaikstein jenes Fluchs, der über Theben liegt.
Der Dramatiker lässt mit seinen Vermutungen und Mutmaßungen, die er in glasklare, wie Verse anmutende Sprache kleidet, Raum für Regie, wie es sonst wohl nur Elfriede Jelinek tut: er schickt nicht einmal eine Liste seines Bühnenpersonals voraus. Wer den Text liest, stellt sich als erste Frage: Wer spricht?
Karin Beier, die Intendantin des Deutschen Schauspielhauses, die nicht nur „Laios“, sondern das ganze große Anthropolis-Projekt inszeniert, nimmt die Möglichkeiten dieser Freiheit, die Schimmelpfennig einräumt, wahr – und entscheidet sich für Reduzierung. Extrem! Statt Laios, seine Gattin und den Freund auftreten zu lassen, entscheidet sich Beier für eine einzige Figur – eine Erzählerin, eine Sucherin nach Laios, jemand, der die Bewegung der Zweifel verkörpert, die im Zentrum der Collage Schimmelpfennigs steht – in Hamburg gespielt von Lina Beckmann.
Lina Beckmann ist allein auf der Riesenbühne, die Johannes Schütz für sie mit Requisiten einer Probebühne ausgestattet hat. Ein Chaos: Bürostühle, Schränke, ein toter weißer Theaterstier aus Leinen und (mutmaßlich) Sägemehl (Zeus?) und einigen überlebensgroßen Masken, wie sie zum antiken Theater gehören. Die Schauspielerin schlüpft in verschiedene Rollen, meistens aber ist sie Lina Beckmann, die, in Brechtscher Verfremdung, auf die Figuren des Textes anspielt – meistens auf Laios. Manchmal ist sie so entfernt von dem Prinzen und späteren König, wie eine Frau des 21. Jahrhunderts von einer antiken Figur – wie könnte sie als Zeitgenossin von uns daran glauben, dass die Weissagung der Pythia, Laios werde seinen Vater umbringen und seine Mutter heiraten, wahr werden könnte? Aber dann berichtet sie, dass genau das passieren wird, dass Laios und Ödipus aufeinandertreffen, Ödipus Laios aus einem nichtigen Grund umbringt, ohne zu wissen, wer dieser Mann ist, dass dies sein Vater ist, den er erschlägt.
Lina Beckmann spielt bewundernswert: diese Disziplin, diese Abwechslung von Ernst und Witz, diese Sprünge von Figur zu Figur: diese Wandlungsfähigkeit. Trotz der Riesenanstrengung scheint bei Lina Beckmann alles leichtes Spiel – auch wenn mitunter der Schweiß perlt, der Speichel im Scheinwerferlicht fliegt.
Den Höhepunkt erreicht der Abend in dem Augenblick, in dem das Stück zu Ende geht, wir von Laios Tod erfahren: ein Beifallssturm bricht los, den Lina Beckmann in ihrem Leben nie wieder vergessen wird. Das Publikum ist begeistert, aus dem Häuschen erhebt es sich zu Ehren der Beckmann. Standing Ovations. Lauter Jubel.
Verdient. Ein toller Abend.
(Beim Schlussbeifall verbeugte sich auch der Dramatiker, Roland Schimmelpfennig. Eine bessere Uraufführung für seinen „Laios“ hätte er sich nicht wünschen können.)
Ulrich Fischer
Weitere Aufführungen: 1. 10., 11. 10., 4. 11 und18. 11.
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