Kunst und Leben

Sophokles‘/Roland Schimmelpfennigs „Ödipus“ im Deutschen Schauspielhaus

HAMBURG.   „Ödipus“ ist schwer zu lesen – die Inszenierung in Hamburg hingegen war leicht zu verstehen.

Das gelbe Reclam-Heftchen hat Kurt Steinmanns Übersetzung veröffentlicht: Verdienstvoll, kenntnisreich, hochgelehrt – nicht zuletzt desdhalb mühsam zu erschließen, das umständliche Deutsch der Gräzisten.

Roland Schimmelpfennigs neue Fassung ist hingegen kristallklar – auf ihr ruht sicher und in jedem Wort, jedem Satz, jeder Szene transparent die Inszenierung Karin Beiers, der dritte Teil des großen Anthropolis-Projekts des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Karin Neuhäuser ist eine Meisterin des Sprechens – mit den ersten Worten der Tragödie macht sie klar, dass ein Wert von Schimmelpfennigs Arbeit in der sorgfältigsten Wahl jedes einzelnen Wortes liegt – nichts Überflüssiges. Hochverdichtet: Schimmelpfennig legt jedes Wort buchstäblich auf die Goldwaage.

Die Neuhäuser spielt eine alte Priesterin, ihr Gesicht ist verwüstet, sie weiß Bescheid, das Alter hat Erfahrung mit sich gebracht, Desillusionierung. Die besteht Ödipus noch bevor.

Devid Striesow spielt Ödipus mit Krücke – Foto: Monika Ritterhaus

Devid Strisow verkörpert Ödipus – er  wirkt zu einseitig herrisch, schreit, brüllt. Im zentralen Dialog mit Teiresias, dem Seher, wird nicht recht verständlich, warum der König   einsichtiger wird, klarer sieht. Auch Michael Wittenborn spielt den Seher   holzschnittartig – die ganze Inszenierung Karin Beiers ist nicht auf der Höhe von Schimmelpfennigs Übersetzung – auch wenn die Aufführung mit einem Riesenchor prunkt. Oder klugen Regieentscheidungen. Ödipus braucht eine Krücke. Als seine Eltern ihn als Säugling aussetzen ließen, wurden seine Füße durchstochen – er leidet noch als Erwachsener an den Folgen. – Und ein Mann mit Krücken weist auch auf das zentrale Menschenbild dieser Aufführung: er braucht Stützen, steht nur mühsam, unfrei. Genau das Gegenteil von Michelangelos „David“.

Johannes Schütz hat als zentrales Element seines Bühnenbildes einen riesigen Rahmen gesetzt – die Szene zeigt ein Abbild, das Bild eines uralten Dramas aus einer Epoche, in der die Menschheit viel jünger war, unsere Kunst am Beginn ihrer Entwicklung stand. Auch das könnte eine Erklärung für die Schmucklosigkeit der Hamburger Inszenierung sein, eine Schmucklosigkeit, zu der Karin Beier auch in ihrer Version des Realismus neigt.

Ist das schon eine vorausweisende Deutung des Fünfteilers? Am Schluss steht Antigone und ihr Tod – ist Theben eine Warnung, dass die Weisheit der Herrscher keine ist, das am Ende der Untergang steht, die Geschichte Thebens eine es Zerfalls & Untergangs ist?

Aber gemach, erst kommt vor Antigone noch der vierte Teil: „Iokaste“. Karin Beier ist eine Regisseurin, die den Zusammenhang von Geschichte mit der Gegenwart sucht – und die drängte sich an diesem Abend auf, an einem Freitag, den 13.

Freitag, der DREIZEHNTE

Die Umgebung der Inszenierung wirkte stärker, die Realität mächtiger als die Kunst: Das Deutsche Schauspielhaus liegt Hamburgs Hauptbahnhof gegenüber – dort treffen sich viele Arme, Obdachlose, Asylsuchende, Heimwehkranke auch aus dem Nahen Osten. Die Polizei rückte an, weil in aller Welt Muslime sich zu großen Demonstrationen gegen Israel trafen –   um hier, in Hamburg,  mögliche Ausschreitungen im Keim zu ersticken, rückte die Polizei an mit allem, was sie hat, um einzuschüchtern: am bombastischsten wirkten die panzerartigen Wasserwerfer, begleitet, unterstützt von Mannschaftswagen im Dutzend, blitzenden PS-starken Motorrädern. Die Einschüchterung hatte Erfolg – ich habe keine Krawalle bemerkt.

Als wir im Zuschauerraum saßen, befahlt eine Lautsprecherstimme, zwei Minuten, bevor die Aufführung beginnen sollte, das Theater zu räumen – ein „technischer Fehler“. Wir standen draußen, es war windig, regnerisch, herbstlich, wir wussten nicht, ob es weiterging, waren unsicher und warteten – eine gute Stunde. Wohl mancher hat, als er seinen Unmut unterdrückte, gedacht, wie viel besser diese kleine Unbill war, als im Gazastreifen um sein Leben zu fürchten …

Ein Theaterabend, der wohl ebenso wegen der Polizei, des Winds und des Regens, wegen der Drohung im Nahen Osten in Erinnerung bleibt, wie wegen „Ödipus“ – vor allem wegen der geglückten Neuübersetzung und Bearbeitung.

                                                                                              Ulrich Fischer

Weitere Aufführungen: 15. und 31. 10.;  18.  und 25. 11.

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