„Anthropolis“ – Roland Schimmelpfennigs neuer Dramenblock als Taschenbuch
Roland Schimmelpfennigs Dramatiker-Talent erweist sich immer wieder sowohl in der Aufnahme aktueller Themen wie großer Stoffe der Theater- und Literaturgeschichte, die ihn reizen, weil er sie neu zu deuten weiß. Theaterleute in aller Welt von Tokio bis Stockholm, von Havanna bis New York schätzen dieses rare Talent und gehen das Risiko ein, ihm Aufträge zu erteilen, weil sie guten Grund zu der Annahme haben, dass Schimmelpfennig ein Stück glückt, das ihren Spielplan bereichert, weil es im Publikum wie bei der Kritik für Diskussionen sorgt.
Insofern ist der große Auftrag, ein fünfteiliges Antikenprojekt für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg zu entwerfen, eine konsequente Fortsetzung und ein Höhepunkt. Schon der Plan, der an Peter Stein und das Ensemble der Schaubühne in ihrer starken Phase („Orestie“) erinnert, setzt Maßstäbe.
Die Aufführungen haben begonnen, „Laios“ entfesselte einen in Hamburgs Schauspielen raren Beifallssturm, kürzlich hatte als dritter der fünf Teile, „Ödipus“, Premiere.
Ein wenig verspätet brachte jetzt Fischer (Frankfurt) die Texte als (Taschen)Buch heraus – ein willkommener Begleiter des großen Hamburger Theaterprojekts, aber auch unabhängig von den Aufführungen eine lohnende Lektüre, die Schimmlpfennigs Rang in helles Licht rückt.
Schimmelpfennigs Überblick über die antiken Dramen, ihre inneren Zusammenhänge, ist stupend, der Bogen, den er schlägt, imponierend und erkenntnisfördernd, der Zusammenhang zwischen Antike und Gegenwart (Theben und Hamburg) bedrückend: der Fortschritt schrumpft zu einer quantité negligeable. Schimmelpfennig erscheint auch hier wie bei seinem bisherigen, umfangreichen Œuvre als gebildeter, sprachbewusster und -mächtiger, konservativer, aber auch liberaler Autor. Er ist indes nie affirmativ und betont in seinem Fünfteiler noch stärker als bislang den gesellschaftskritischen Aspekt. Statt sozialer Veränderungen oder gar eines revolutionären Umsturzes strebt er eher einen Wandel der Bewusstseine an. Welche Folgen das haben könnte, davon ist bei ihm weniger die Rede. Allerdings scheint eines klar: sein Theater soll durch den Genuss bei der Aneignung des Erbes (wie des Gegenwartsdramas) einen Zuwachs an geistiger Unabhängigkeit und innerer Freiheit seines Publikums fördern.
Mit „Anthropolis“ erweist sich Schimmelpfennig auf der Höhe seiner Schaffenskraft; er ist ein Meister.
Ulrich Fischer
„Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben“. Fünf Stücke. Frankfurt am Main 2023. 507 S. , 22 €.