Frau für den Frieden

Der vierte Teil von Roland Schimmelpfennigs Antikenprojekt: „Iokaste“

Iokaste war nicht nur  Gattin von Ödipus, sondern auch seine Mutter – das macht sie weltberühmt. Der Dramatiker  Roland Schimmelpfennig rückt das Plaidoyer Iokastes für den Kompromiss, für den Frieden in den Mittelpunkt des vierten Stücks („Iokaste“) seines Fünfteilers „Anthropolis“. Iokastes Söhne, Eteokles und Polyneikes, streiten um die Herrschaft über Theben. Polyneikes ist mit einer Streitmacht vor die Tore der Stadt gezogen, um sein Recht durchzusetzen: sein Bruder Eteokles hat ihm versprochen, nachdem er (Eteokles) ein Jahr über die Stadt geherrscht hat, die Königswürde dem Bruder zu übergeben – aber Eteokles ist nicht gesonnen, sein Versprechen zu halten. Krieg droht.  Iokaste, die Mutter, sucht den Kompromiss, um das Leben ihrer Söhne und die Stadt vor der Zerstörung zu bewahren.

Dieses Plädoyer ist ein Meisterwerk – Schimmelpfennig entfaltet  die Argumente, und, jedes unnötige Wort vermeidend, spitzt er   zu:

„… ihr hattet keine Wahl,

wer eure Eltern sind,

aber jetzt,

jetzt und hier, jetzt

stellt euch das Leben vor eine Wahl,

ihr seid frei

ihr könnt entscheiden –

und jetzt könnt ihr nicht anders,

als euch umzubringen?

Ist das so?

Sind wir für immer schuldig,

gibt es keinen anderen Ausweg,

kein Vergessen?“

Eine Rede gegen die Gewalt. Gegen den Krieg. Für den Frieden. – Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg wird von einer Frau geleitet, dramaturgisch wird „Anthropolis“ begleitet von einer Frau – und es dürfte kein Zufall sein, dass die wichtigsten Rollen Frauen spielen. Iokastes überzeugende Argumente gegen den Krieg, für den Kompromiss, für den Frieden sind Frauenargumente, den Krieg wollen die Männer, egoistische, engherzige Wesen, die lieber sterben, als ihre Herrschaftsgelüste aufzugeben – ein feministisches Konzept. Feministisches Theater. Aber auch für Männer zustimmungsfähig. Die Europäische Union fußt auf der Erfahrung des Krieges, dessen Zerstörungen, der jahrhundertealten Dauer der Machtkämpfe, die nicht ein für alle Mal gelöst werden konnten – um aus diesen Erfahrungen lernend zu sagen: unsere Konflikte wollen wir nicht mehr gewaltsam lösen, nur friedlich, wir müssen, wir wollen nach Kompromissen suchen. Nie wieder Krieg!

„Anthropolis“ ist das Stück der Europäischen Union, ihr Geist erweist sich als überlegen: Wohlstand und Frieden gegen Zerstörung und Tod. Doch soweit sind die Thebaner in „Iokaste“ noch nicht.

Karin Beier führt Regie. In der zentralen Szene setzt sie die feindlichen Brüder an die Schmalseiten eines Tischs einander gegenüber, an der Längsseite sitzt Julia Wieninger als Iokaste, ihre Mutter, sie versucht zu vermitteln. Das einfache Arrangement ist hochwirksam, es wird noch gesteigert, indem die immer gleichen Argumente immer wieder wiederholt werden, kein Fortschritt, nirgends. Es ist gar nicht nötig, dass die Schauspieler so schreien, eher kontraproduktiv – leiser wäre besser, weil dann die Argumente verständlicher wären.

Iokaste (Julia Wieninger) am Tisch, während ihre Söhne im Hintgergrund dabei sind, Theben abzuräumen – Foto:Thomas Aurin

Dieses Einer-Gegen-Den-Anderen greift Johannes Schütz in seinem archaisierenden Bühnenbild auf: als Hauptfarben wählt er schwarz und weiß, einfacher kann der Gegensatz nicht markiert werden.

Die Aufführung wirkte bedrückend eindringlich wegen der Nachrichten: sei es aus der Ukraine, sei es aus dem Nahen Osten. Iokaste hat Recht, es muss ein Vergessen her, ein Neuanfang, ein Ende der Kriege. Die Waffen nieder.

Am Anfang der knapp zweistündigen Aufführung erzählt Iokaste von einer alten Frau, die auf dem Schlachtfeld die Leichen ihrer beiden Söhne sucht und sich zwischen sie legt, nachdem sie sie gefunden hat.

Am Ende wiederholt Iokaste diese Episode, dann legt sie sich zwischen die blutverschmierten Leichen ihrer Söhne. Das Licht erlischt.

„Iokaste“ ist eine Tragödie.

Eine uralte Tragödie gegen den Krieg.

 Ulrich Fischer

Aufführungen am 29. 10.; 3. und  19. 11.

Internet: www.schauspielhaus.de