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Antikenprojekt – unübertroffen
Roland Schimmelpfennig (*1967) ist ein Meisterdramatiker – das stand schon 2001, nach der Uraufführung seiner „Arabischen Nacht“, fest; das Stück zwischen Traum und Wachen wurde oft nachgespielt. Diesen Ruf als Meisterdramatiker festigte Schimmelpfennig spätestens 2009 mit „Der Goldene Drache“ – eine Melange von exotischem Märchen und knallharter Sozialkritik, die Publikum, Publizisten und Theaterleute gleichermaßen entzückte. Nun besiegelte Schimmelpfennig seinen Ruf mit einem Fünfteiler: „Anthropolis“: „… er, der Mensch, der Erfinder …/Aus dem Nichts/erschafft er Worte/er beherrscht Sprachen/seine Gedanken sind so schnell wie der Wind/…“ (Antigone, der Chor).
„Dionysos“, „Laois“, „Ödipus“, „Iokaste“ und zum Schluss „Antigone“ wurden zum Auftakt dieser Spielzeit vom 15. September bis zum 10. November, also innerhalb von nur acht Wochen, im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt. Schimmelpfennig zeigte sich wieder auf der Höhe in Bezug auf Sprachmeisterschaft, Dramaturgie, Handlungs- und Figurenkonstruktion, aber er übertraf sich selbst noch mit dem ganz großen, kühnen, generationen- und epochenübergreifenden Bogen: von den Anfängen unserer Theatergeschichte bis heute, vom Anfang der Geschichte Thebens bis zum Tod Antigones, dem Ende der Herrscherdynastie um Ödipus (Labdakiden).
Als Vergleich bietet sich Aischylos‘ „Orestie“ an, die Peter Stein 1980 für die Berliner Schaubühne übersetzte (und dort auch inszenierte) – aber während die „Orestie“ optimistisch mit der Begründung der Demokratie schließt, endet „Anthropolis“ tragisch – wird zur Mahnung, welche Folge die Unfähigkeit zum Kompromiss, zum Frieden nach sich zieht: den Untergang. Zum Gravitationszentrum des gesamten Fünfteilers erhebt Schimmelpfennig den Konflikt von Krieg und Frieden – Männer plädieren meist für rücksichtslose Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruchs, für Sieg, Krieg; Frauen überwiegend für Kompromiss, Verständigung, Frieden. Eindringlich der Monolog von Iokaste, die ihre Söhne bestürmt: „… jetzt und hier, jetzt/stellt euch das Leben vor eine Wahl,/ihr seid frei/ihr könnt entscheiden -/und jetzt könnt ihr nicht anders,/als euch umzubringen?/Ist das so?/Sind wir für immer schuldig,/gibt es keinen anderen Ausweg,/kein Vergessen?“
Diese Parteinahme für den Frieden prägt, bestimmt alle fünf Stücke, sie arbeiten Schimmelpfennig und sein Ensemble heraus, verwandeln dieses unser uraltes, bis heute Maßstäbe setzendes Erbe in bedrängendes Gegenwartstheater.
Dem Prolog am Anfang entspricht ein Epilog am Ende. Bei der Uraufführung spricht ihn der Darsteller des Teiresias, Michael Wittenborn. Zum Schluss beschreibt der Seher Europa auf dem Stier, ihr Hemd flattert im Wind. „Was sieht sie?“ fragt der Seher bang – der Fünfteiler endet offen.
Karin Beier, die Intendantin des Deutschen Schauspielhauses, die auch Regie führte, schreibt: „Von Anfang an war Theben gebaut mit Wehrhaftigkeit, Kunst und Kriegskunst. Mauern mit sieben Türmen, die eine feste Grenze zwischen Stadt und Welt setzen, die Tendenz, sich abzuschließen im eigenen Reichtum und sich selbst als ewig zu denken – so einzigartig Theben war, vieles davon findet sich unter anderen Parametern heute wieder.“
Dieser Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart bildet die Grundlage für „Anthropolis“ – ein großer Wurf, der im deutschsprachigen Gegenwartstheater seinesgleichen sucht. Mit der Autorität der Alten erhebt das Deutsche Schauspielhaus für das Theater den Anspruch auf Deutungshoheit in unserer Gesellschaft, spricht sich eindeutig und unmissverständlich für Frieden aus.
Schimmelpfennig ist zur Zeit als Dramatiker in unserm Sprachraum unübertroffen.