„An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“
– Roman von Roland Schimmelpfennig
Am Anfang des Romans wird im Osten Deutschlands „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ ein Wolf gesichtet, am Ende verschwindet er. Die Medien begleiten seinen Weg, der nach Berlin führt, viele Personen des Romanpersonals sehen ihn oder meinen ihn zu sehen – der Wolf wird so oft und so prominent erwähnt, dass sich die Frage, was er bedeuten soll, nicht beiseiteschieben lässt, zumal er auch den Rahmen des Romans bildet.
Paare sind wichtig. Eine Junge und ein Mädchen laufen von zu Hause weg, weil die Mutter ihre Tochter geschlagen hat – mit einem Ring, das Mädchen ist im Gesicht, am Auge verletzt. Sie und ihr Freund kommen über Umwege nach Berlin, finden aber nirgends eine wirkliche Zuflucht.
Ein polnisches Paar kommt in Gefahr, sich zu trennen, weil der Mann wochenweise in Polen Arbeit findet, seine Freundin indes als Putzfrau feste Verträge in Berlin erfüllen muss. Sie wird ihm untreu, und als sie ihm erklärt, sie erwarte ein Kind, aber nicht von ihm, geraten die beiden in eine schwere Krise.
Einer der Auftraggeber der jungen Polin ist ein weltberühmter Maler, seine großzügige, geschmackvoll eingerichtete Wohnung und sein Atelier zeugen im Vergleich zur bescheidenen, schlichten Wohnung des polnischen Paares und der beiden Obdachlosen Jugendlichen von Klassenunterschieden in Berlin. Die erste Frau des Künstlers, von der er längst geschieden ist, ist die Rabenmutter, die ihre Tochter nicht nur geschlagen, sondern verletzt hat. Der Künstler begibt sich auf die Suche nach seiner Tochter, als er erfährt, sie könne in Berlin sein.
Viele Elemente scheinen zunächst unverbunden nebeneinander zu stehen – dann knüpft Schimmelpfennig lose Verbindungen – aber sie führen nicht zu glücklichen Lösungen – der reiche Vater findet seine Tochter nicht – kann ihr so nicht helfen. Und auch, wenn das polnische Paar wieder zusammenfindet, ist fraglich, ob die fragile Verbindung auf Dauer halten wird – gerade der Mann scheint psychisch labil.
Andere Elemente steigern das Gefühl der Zusammenhanglosigkeit – bedeutsam erscheint eine junge Frau, die als Journalistin von ihrem Chef die Aufgabe bekommt, jeden Tag eine Geschichte über den Wolf zu schreiben. Dabei dürfte sie weniger ihre schriftstellerischen Mittel verbessern, als ihre eigentlichen Ziele aus dem Blick zu verlieren.
Der Wolf, über den sie schreibt, meistens Geschichten von Leuten, denen sie nicht glaubt, könnte für die verlorenen Ziele und Hoffnungen stehen, die mit der Vereinigung Deutschlands verbunden waren. Einigkeit und Recht und Freiheit stehen in scharfem Gegensatz zum Wolf. Roland Schimmelpfennigs Roman spielt in Berlin, er hat einen Roman über Deutschland geschrieben, eine Bestandsaufnahme, so eiskalt, wie viele „Januarmorgen am Beginn des 21. Jahrhunderts“. Die Jagd auf den Wolf ist vergeblich – er wird nicht erlegt. Er lebt und west weiter – vielleicht auch ein Symbol für den räuberischen Kapitalismus. Auch unser Wappen ziert ein Raubtier. Mit roten Klauen und rotem Schnabel.
Hervorstechende künstlerischen Mittel des Romans ähneln denen der Dramen. Die Unverbundenheit der Szenen fällt auf wie die Lakonie des Textes: „Die ganze Stadt in Aufruhr. Die Zeitungen, die Schlagzeilen. Das Lokalfernsehen. Die Nachricht weltweit. Der Berliner Wolf. Völker schaut auf diese Stadt, wie hat sie sich verändert. Dieser Wolf ist ein Berliner.“ (S. 223)
Die Prägnanz der kurzen Sätze erzeugt sprachliche Kraft.