Lehrkrimi

Die Linie zwischen Tag und Nacht – Roman von Roland Schimmelpfennig

Der Icherzähler der „Linie zwischen Tag und Nacht“ ist ein höchst erfolgreicher Kriminalbeamter in mittleren Jahren, der abzustürzen droht – er ist in Drogengeschäfte verwickelt und fürchtet, die Staatsanwaltschaft werde demnächst Anklage erheben. Er lebt im Berlin unserer Tage und  entdeckt, als er am 1. Mai bei den ausgelassenen Festen am Kanal spazieren geht, eine junge Frau im Brautkleid auf dem Wasser. Er springt in den Kanal, um die Braut zu retten. Als sie an Land hochgezogen wird, stellen die Retter fest: es ist zu spät. Die junge Frau ist tot.

Die Szene ist realistisch beschrieben und weist gleichzeitig über die Schilderung der Oberfläche hinaus auf ein zentrales gesellschaftliches Problem, das Schimmelpfennig immer wieder in seinen Werken in den Mittelpunkt rückt: die Gleichgültigkeit. Die Leiche des jungen Mädchens im Brautkleid, die auf dem Kanal dahingleitet, bleibt von den vielen Tausenden, die feiern, trinken und tanzen, unbeachtet. Der über der feiernden Menge kreisende Polizeihubschrauber  bleibt außen vor, weil die Beamten offenbar nichts sehen. Ein einziger durchbricht diese Gleichgültigkeit: der Kommissar. Da Schimmelpfennig ihn als Icherzähler einführt, liegt nahe, ihn, zumindest partiell,  als wirklichen Autor zu betrachten: seine Aufgabe ist es, die Gleichgültigkeit, die Selbstbezogenheit, die Blindheit der Vielen zu durchbrechen, sie in Aufmerksamkeit zu verwandeln, um Tragödien zu vermeiden – diese Wirkungsabsicht liegt den meisten Arbeiten Schimmelpfennigs zu Grunde.

Die Exposition  fließt unmerklich und rasch hinüber in die eigentliche Handlung: der Kommissar will herausfinden, wer das junge Mädchen ist/war. Die Suche führt nicht nur ins Berlin der Rauschgiftszene, sondern, wie schon im „Goldenen Drachen“, Schimmelpfennings Meisterwerk, in globale Verflechtungen unserer Welt. Anders als in den meisten seiner Arbeiten stellt Schimmelpfenning nicht nur Rudimente einer zerfallenen und weiter zerfallenden Welt wie unverbunden nebeneinander, sondern fügt sie zusammen. Die Fabel erzeugt Neugier, ja Spannung, macht den Roman lesenswert wie einen Krimi, der allerdings, wie bei Henning Mankell, durch die Verflechtungen scheinbar entfernter Weltteile, einen Wert gewinnt, der den der meisten Krimis übersteigt.

Das Mädchen ist an einer Überdosis gestorben. Sie kommt aus der Türkei, aus Anatolien. Sie konnte dem Elend und den Gefahren des Grenzgebiets zu Syrien entkommen, weil ein alter Landsmann sie gerettet und  nach Deutschland mitgenommen hat – illegal in einem seiner Lastwagen. Der alte Türke ist vor einer Generation mittellos nach Deutschland gekommen und hat, dank harter Arbeit, Geschäftssinn und Disziplin, ein Vermögen zusammengerafft: er besitzt einen viel frequentierten, teuren  Lebensmitteladen mit exotischen Waren und ein Eventlokal, in dem die Hautevolee  Feste feiern kann – mit vielen verbotenen  Rauschmitteln, die das Leben versüßen und intensivieren sollen.

Vor diesen Gefahren möchte der alte Mann   seinen Protegé beschützen – und schließt das junge Mädchen ein: „… Mauricio begriff jetzt (…), dass der alte Türk nicht geglaubt hatte, sie einzusperren. Er hatte geglaubt sie zu beschützen. Er wollte verhindern, dass sie kaputtging, und genau dadurch zerstörte er sie.“ (S. 200) Nach schweren Konflikten entkommt das Mädchen der fürsorglichen Einkerkerung – und gewinnt gleichaltrige Freundinnen und Freunde, die Drogenkonsum als notwendigen Bestandteil ihres Lebens ansehen – sie steigen im Rausch vermeintlich aus ihrem Elend und ihren Abhängigkeiten aus. Statt wirklicher  Befreiung öffnen sie die Pforten ihrer Wahrnehmung. Das endet in der Tragödie, die junge Frau im Brautkleid bezahlt mit ihrem Leben – wie ihr väterlicher Freund und Befreier auch.

Auf dem Weg zur bitteren Erkenntnis passiert der Kommissar Stationen des Rauschgiftkonsums – Roland Schimmelpfennig schildert eine Welt der Selbstvergessenheit und Verantwortungslosigkeit, die realistisch wirkt – das Interesse an Drogenräuschen, dem Schimmelpfennig immer wieder mit präzisen Beschreibungen entgegen kommt, konterkariert er mit der Warnung vor dem Abgleiten, vor den Depressionen beim Ausstieg aus dem Rausch, und der damit einhergehenden Todesgefahr. Die   Warnung ist so intensiv, weil begründet.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist wegen der Zusammenfügung der auseinanderfallenden Teile der geglückteste Roman Schimmelpfennigs. Seine Stücke sind besser, aber es erscheint durchaus möglich, dass Schimmelpfennig sein hohes Niveau als Dramatiker auch als Romancier erreicht. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ überzeugt durch die Fülle genauer Beobachtungen, noch mehr der äußeren Welt des verkommenen und weiter verkommenden Berlin, als der Innenwelt von Berauschten. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist als Titel glücklich gewählt – die Braut im Kanal, die Schimmelpfennig in den Mittelpunkt rückt, hat diese Line überschritten.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“ hat nicht nur didaktische Züge, der Roman ist ein Lehrstück.