Schlicht und üppig

„Zaubertheater“ in Aurich

AURICH is schaurich. Aber nicht nur. Wer am frühen Abend unweit der Altstadt am Georgswall spazieren geht, sieht inmitten banalster Geschäfte die befremdliche Werbung: „Zaubertheater“. Die Anziehungskraft ist magisch.

Andreas Reichert öffnet pünktlich um viertel nach sechs, die ersten Gäste warten schon fröstelnd, im Foyer ist es warm. Ein erstes Willkomm.

Es bleibt nicht beim ersten. Wir hängen unsere Mäntel und Anoraks auf, verteilen uns um   Stehtische, während der Blick magisch angezogen wird von einem kalten Buffet – aber wir müssen uns noch eine viertel Stunde zügeln, ehe der Zaubergong uns erlöst – denn vorher begrüßt uns ein Mann in seinen besten Jahren und stellt sich vor:

Andreas Reichert betreibt im Hauptberuf eine Werbeagentur, Zauberer ist er nebenbei – aber was „nebenbei“ bedeutet, werden wir noch erfahren. Er kommt ganz ohne Frack und Zylinder aus, er trägt Alltagskleidung: eine helle Hose, Turnschuhe, über dem blauen Hemd eine schwarze Weste. Kurzes Haar, eine Brille jenseits aller Magie, dafür helle, aufmerksame Augen. Er strahlt was aus – zunächst einmal Selbstbewusstsein.

Andreas Reichert – der Zauberer

Um halb sieben dürfen wir ans kalte Buffet – es ist üppig. Herr Reichert hat nicht gespart, es gibt zwölf verschiedene Köstlichkeiten, Häppchen mit Fisch, mit Fleisch, vegetarisch, jeder kann von allem probieren, z.B. Rote Beete im Glas mit großen geräucherten Garnelen – köstlich. Oder, originell, eine lauwarme Currysuppe im Glas mit einem dicken Strohhalm, sorry: Glashalm zu trinken.

Dazu ein Gläschen – die Atmosphäre lockert sich, der Geräuschpegel  steigt auf Erwartungsvoll. Dann öffnet sich der Vorhang, der das Foyer vom Zuschauerraum und der Bühne trennt. Platz ist in drei Reihen hintereinander für etwa fünfzig Leute – an meinem Abend gut durchmischt, junge, mittelalterliche und höhere Semester, ein kleiner Junge – die Bühne, schmal, das berühmt-berüchtigte Bügelbrett, ist offen und zeigt einen Speicher, einen Boden, darauf Abgestelltes – kein Gerümpel, aber Sachen von damals. Als Herr Reichert noch  Andreas war. Der Abend heißt „Magische Reise“ – gemeint ist eine Reise in Aurichs jüngste Vergangenheit.

Denn Andreas Reichert erzählt uns seine Geschichte, als er noch ein kleiner Junge war, wie er älter wurde – und wie seine Alltagskleidung trägt die Geschichte von dem Jungen, der in armen Verhältnissen aufwuchs, zur Authentizität unseres Zauberers bei. Seine Mutter wagte es, sich scheiden zu lassen –   sie musste im Aurich (ist schaurich, bitte nicht vergessen!) der achtziger Jahre dafür büßen. Der Vater zahlte keinen Unterhalt und das Gehalt der Mama reichte hinten und vorne nicht. Der Chef war empört, dass eine Frau sich scheiden ließ, er antwortete auf diese weibliche Unbotmäßigkeit mit männlicher Härte.

Vielleicht kam daher der Impuls, sich aus diesen bedrückenden Verhältnissen wegzuzaubern? Der Gegensatz könnte kaum krasser sein – wenn Herr Reichert mit seinem Seil beginnt. Er bittet jemand im Publikum, es in der Mitte durchzuschneiden. Aber eine Seite ist länger als die andere. Macht nichts – Reicherts magische Hand streicht über die beiden Teile – und sie sind wieder zusammen. Ein Seil. Unversehrt. Nochmal, nochmal das Gleiche. Dann in viele Teile – und wieder wächst das Seil, keiner weiß wie, erneut zusammen.

Wie ist das möglich? Unmerklich verwandelt sich der alltägliche Herr Reichert in den Zauberer – und in eine professionellen. Er hat keinen Löwen im Programm, keine zwei sibirischen Tiger – er bleibt auf dem Dachboden seiner jungen Jahre und nutzt kleine  Kunststücke. Karten: das große Spiel mit 52 Karten – er hat ein Spiel, seine Partnerin im Publikum ein zweites. Sie mischen. Mischen noch einmal, heben ab. Dann kommen beide Spiele auf den mit schwarzer Seide bespannten Zaubertisch -werden umgedreht, offen gelegt – alle Karten liegen in der gleichen Reihenfolge. Unmöglich, aber wahr! Magisch.

Immer wieder bezieht unser Zauberer uns Zuschauer ein, die Rampe verschwindet fast –   Reichert blamiert uns Alltagsmenschen nie, zeigt nie seine Überlegenheit, sondern macht jene, die auf die Bühne gebeten werden, zu Assistenten, bittet für sie um Applaus.

Den gibt es reichlich. Die Verwunderung ist fast mit Händen zu greifen, Verwunderung erzeugt Bewunderung. Wir haben es mit einem Meister zu tun – z.B. seine Kunst, Gedanken zu lesen, ist geradezu unheimlich.

Vier Leute aus dem Publikum bekommen vier verschieden Bücher. Ich bin dabei. „Schlagen Sie eine beliebige Seite auf“, bittet Andreas Reichert. Ich schlage Seite 82 auf, soll das erste Hauptwort suchen – kein Name, mein Hauptwort lautet „Messer“. Und tatsächlich, nachdem der Zauberer bei zwei Damen ihr Wort erraten hat, bin ich dran: Er kann nicht wissen, welche Seite ich aufgeschlagen habe. Er kann nicht wissen, welches Wort das erste Substantiv ist. Er schaut mich intensiv an, er nähert sich langsam mit suchenden Worten: „spitz“, „hart“, „blinkend“- schließlich: „Messer!“ – „Messer!“, bestätige ich. Beifall.

Die Stimmung ist angeregt, als wir in die Pause gehen – dort erwartet uns eine weitere Überraschung, Süßes, kleine Portionen, Cheesecake, Eclair, erste Klasse, wieder, wie am Anfang, üppig, nicht gespart. Und so raffiniert, dass es kaum Zweifel gibt, dass Andreas Reichert die Delikatessen von seinem Zauberdrachen aus Paris von einem Maîtretraiteur hat einfliegen lassen.

Andreas Reichert geht von Tisch zu Tisch, plaudert, geht auf Fragen ein. Aber Tricks verrät er nicht – Geschäftsgeheimnis!

Im zweiten Teil erzählt Andreas Reichert von seiner Arbeit, wie er dazu kam, das Wagnis einzugehen, sein Zaubertheater zu eröffnen; wie ihm Skepsis seitens der Kultur-Verantwortlichen in der Stadt entgegenschlug, wie sie ihm selbst einen kleinen Zuschuss zu einem Scheinwerfer verweigerten. Die Sympathie des Publikums ist ganz auf  Reicherts Seite –   sein Erfolg manifestiert sich im Zuschauerinteresse – ich musste   Monate warten, bis zwei Plätze für meine Frau und mich frei waren.

Der Schlussbeifall wollte nicht enden und hatte enthusiastische Qualitäten.

Tiefgang

Andreas Reichert ist Werbemann, aber seine Zauberei ist mehr als ein Hobby. Er ist ein Profi – in jeder Beziehung: in der Gestaltung seines Zaubertheaters, schlicht und üppig zugleich, in der einladenden Atmosphäre, dem ganz besonderen kalten Buffet; in der Nähe von Zauberer und Publikum, in der Geschichte, die den Zusammenhang stiftet, im kleinen Aufwand und dem großen Effekt.

Alles aber doch nur Unterhaltung. Zauberei. Ist der Anspruch „Theater“ nicht viel zu hoch gegriffen?

Keineswegs. Die Bedeutung wird deutlich in der Frage: „Wie ist das möglich?“ – Es erscheint doch gar nicht möglich – und doch. Mit Unmöglichkeit für das Publikum, den Zaubertrick zu erklären, den Zauberer zu entzaubern, wächst die Skepsis gegenüber den eigenen kritischen Fähigkeiten: Wenn wir nicht mal den kleinen Trick von Andreas Reichert erklären können – auf welche Tricks fallen wir noch rein? – Thomas Man hat in seiner Erzählung „Mario und der Zauberer“ den Zusammenhang entfaltet: Ein alternder Zauberer verzaubert die beste Gesellschaft in Italien mit seinen Tricks – Manns Erzählung   wird heute  als Analogie zum Faschismus gelesen – gerissene Politiker täuschen uns, und wir fallen darauf herein.

Neben der Einladung zu einem zauberhaften Abend regt Andreas Reichert zu Wachsamkeit an: „Es ist nicht wünschenswert, etwas zu glauben, wenn kein Grund vorliegt, es für wahr zu halten“ – diese Definition der Skepsis von Lord Russell fällt einem ein, wenn man aus der Wärme des Zaubertheaters in den kalten Abend heraustritt. Man fröstelt: Aurich is schaurich.

Nicht ganz. Die Verantwortlichen werden Aurichs Ruf gerecht, hoffentlich siegt über das Blei der Betonköpfe, das sie der Stadt verpassen, die Agilität des kleinen Zaubertheaters. Das Interesse des Publikums und seine  unverfälschte Begeisterung verleihen Andreas Reicherts Projekt magischen Schwung.

Zauberhaft.

Internet: www.zaubertheater-aurich.de