Behördenwillkür am Pranger

John Grishams neues Buch ist kein Roman

John Grisham, einer der erfolgreichsten Bestsellerautoren unserer Tage, hat über 50 Romane geschrieben – sein neuestes Buch aber ist keine Fiction, er geht über zum Fakt – zum harten Fakt. Er beschreibt zusammen mit Jim McCloskey, einem politischen Aktivisten, Fehlurteile – insgesamt zehn: fünf Jim, fünf John. Im Vorwort schreibt Grisham: „Wir wollen mit diesem Buch das Bewusstsein für Fehlurteile schärfen und in kleinem Umfang dazu beitragen, weitere zu verhindern. Es soll einige der furchtbaren und herabwürdigenden Taktiken deutlich machen, mit denen Behörden unschuldige Menschen verurteilen und ins Gefängnis bringen.“

Jim McCloskey ergänzt: „Wir versuchen, die systematischen Schwachstellen in der Infrastruktur unseres Justizwesens ans Licht zu bringen, die schuld daran sind, dass Zehntausende undschuldige Menschen, deren Geschichten nicht erzählt werden, in Haft bleiben müssen.“

Das gelingt den beiden überzeugend. Je mehr Geschichten man liest, desto schwerer wird einem das Herz. Was sind das für Staatsanwälte, die Häftlinge zum Lügen verleiten, indem sie ihnen Hafterleichterungen versprechen – nur damit „Beweise“ erbracht werden können gegen Angeklagte, für deren Schuld echte Beweise fehlen? Was sind das für Richter, die einseitig unredliche Ankläger unterstützen und jeden Versuch der Verteidigung abschmettern? Was ist das für ein System, dass „erfolgreiche“ Justizdiener, die (Todes)Urteile vorzuweisen haben, mit Aufstieg belohnt und dem Betrug Vorschub leistet?

Nicht nur schwere charakterliche Defizite von Amtsträgern sind Schuld an den Fehlurteilen, auch Inkompetenz und Anmaßung. John Grisham ist ein Meister in der Aufdeckung dieser Mängel, er lässt es nicht an Ironie und Sarkasmus fehlen. Er durchschaut die Fälle so scharfsinnig, dass er sie glasklar darstellen kann. Das schafft Jim McCloskey nicht immer, er wirkt schwerfällig – dafür glänzt er mit einer Fülle von Belegen. Unglaublich sind Stellen, in denen er beschreibt, wie die Unschuld eines Angeklagten oder schon Verurteilten kristallklar bewiesen wird – und dieser Beweis abgeschmettert wird, weil ein Vorurteil (Rassismus!) besteht oder eine falsche Entscheidung mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, damit ja die Inkompetenz der Justizmenschen unentdeckt, ihre Autorität unangetastet bleibt.

Diese Aspekte wecken die Beunruhigung, dass genau diese  Automatismen Wirkung zeigen werden, wenn in den USA die neue Administration unter D. Trump zu arbeiten beginnt. Das Buch ist – über den Rahmen der Justiz hinaus – brandaktuell. Und Dank John Grisham literarisch ein Vergnügen – die Lakonie seines Schreibens, die Klarheit des Stils, die Parteinahme für Recht und Gerechtigkeit verleihen seinen Anklagen Wucht.

Beide Autoren messen den Schrecken der absichtlich und bewusst herbeigeführten Fehlurteile aus, wenn sie die Lage der Verurteilten beschreiben – andeuten, was es heißt, unschuldig eingekerkert zu sein, die Aufhebung des falschen Urteils unwahrscheinlich, weil die Gegner versuchen, ihre Schandtaten zu verdunkeln, weil sie, hochgeachtet sind im Kreis der Bürger, ihre Macht kaltblütig missbrauchen. Sich in die unschuldig Verurteilten hineinzuversetzen – das ist schrecklich.

Obwohl   Grisham   kompromisslos das Unrecht beim Namen nennt, ein so erfolgreicher und scharfsinniger Kritiker der US- Justiz ist, seine Ironie spielen lässt und steigert bis zu rabenschwarzem Sarkasmus, verliert er nicht seine Zuversicht: „Wenn wir als Gesellschaft politisch den Mut hätten, unfaire Gesetze, Methoden und Verfahren zu ändern, könnten wir praktisch alle Fehlurteile verhindern.“

„Unschuldig“ ist ein bewegendes und überzeugendes Plädoyer genau dafür. Engagierte Literatur, amerikanischer Realismus.

                                                                                                Ulrich Fischer

John Grisham Unschuldig.  True Crime Storys. Aus dem Amerikanischen von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya; 464 S., 24,00 €.