Deutschsprachige Erstaufführung nach Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“
„Die Abweichlerin“ ist eine Bühnenbearbeitung von Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ (1975). Der dänischen Schriftstellerin gelang es, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Dänemark und darüber hinaus in Europa als Schriftstellerin zu reüssieren, sie beschreibt kritisch die engen, proletarischen Verhältnisse, denen sie entstammt. Das war unerhört! Sie ist eine „Abweichlerin“ von der Norm. Frauen, damals nur selten Schriftstellerinnen, waren noch seltener kritisch. Diese Abweichung machte ihr Schwierigkeiten in Familie und Gesellschaft – sie landete in einer schweren Depression.

Lina Beckmann – Foto: Lalo Jodlbauer
In ihrem Roman beschreibt sie diese Depression, die Versuche, ihr zu entkommen, Rückfälle und schließlich ihren Weg zum Freitod. Eine bedrückende Geschichte, die trotz immensen Humors eben doch vor allem eine Tragödie ist. Karin Henkel, die Regisseurin der deutschen Erstaufführung, und ihre Dramaturginnen Finnja Denkewitz und Sybille Meier, ist keine überzeugende Bühnenfassung gelungen; mit über zwei Stunden ist ihnen die Geschichte zu lang geraten– und langweilig. Dass enge Verhältnisse deprimierend sind, ist nichts Neues – und spannend ist es schon gar nicht.
Auch Barbara Ehnes‘ überwiegend abstraktes Bühnenbild erklärt nicht den Zusammenhang von Leben und seelischer Krankheit , zumal Tove ja große Erfolge verzeichnen konnte, Anerkennung erntete, ja Ruhm! Die Leerstellen der Erklärung werden zu Lücken im Stück. Diese Leere wird erst im Programmheft gefüllt: dort wird ausführlich Toves Biographie geschildert, ihre Reflexion über ihre Krankheit. Sie meint, sie sei nicht durch die Verhältnisse krank geworden, sie sei krank in sie hineingeboren: „Es ist meine Seele, die krank ist. Ich bin mit Schwermut geboren, und da kann mir niemand helfen.“ Der Roman ist besser, schlüssiger, ertragreicher als die Bühnenfassung, der das Wichtigste , die Erklärung der Krankheit, entgeht.
Der einzige Glanzpunkt dieser überflüssigen Dramatisierung ist Lina Beckmann. Sie verkörpert die Hauptfigur. Lina Beckmann spielt ganz realistisch, die Langeweile eines glanzlosen Lebens ihrer Familie. Ihre Darstellung der Depression arbeitet heraus, dass diese Krankheit nichts Besonderes ist, sondern das Alltägliche – dass die Verfehlung eines erfüllten Lebens so gewöhnlich ist, dass die meisten sie nicht einmal bemerken. Toves Konsequenz, sich das Leben zu nehmen, wirkt in der Bühnenfassung überspannt, nicht überzeugend. Es liegt wohl am Stück, dass es scheint, als gäbe es keinen wirklichen Grund, Schluss zu machen. Wie gesagt, das ist im Roman ganz anders.
„Die Abweichlerin“ ist missglückt, ein schwaches Stück.
Ulrich Fischer
Weitere Aufführungen: 20. 3.; 16. und 30. 4.; 10. 5. – Spieldauer: 130 Minuten
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