Sonnenfinsternis

 

Sam Mendes  inszeniert Shakespeares „King Lear“ in London

 

LONDON.  Die Aufführung beginnt, ehe das Stück anfängt. Während das Publikum noch nach und nach die Plätze im Olivier einnimmt, im Großen Haus des Royal National Theatres in London, wird eine Sonne auf die Rückwand der Bühne projiziert. Unmerklich langsam nähert sich ein tiefschwarzer Schatten, bis er schließlich die Sonne ganz verdeckt. Sam Mendes hat ein treffendes Symbol für „King Lear“ gewählt: Die Sonnenfinsternis.

 

Aktuell, humanistisch

Dann verlöschen sie Lichter und auf die erste szenische Botschaft folgt rasch die zweite. Der König wird angekündigt – und 28 schwarz gekleidete Polizisten einer bewaffneten Sondereinheit, deren Uniformen an die der Sicherheitskräfte auf britischen Flughäfen erinnern, treten auf und sichern den Thronsaal. Sie sind mit Schnellfeuergewehren bewaffnet. Dann tritt der König ein und begibt sich ans Mikrophon, um seine Absicht zu verkünden, das Reich unter seinen drei Töchtern aufzuteilen.

 

Die Kostüme und das Mikrophon sind deutliche Zeichen für die Aktualisierung von Shakespeares Tragödie. Der König ist ein Tyrann – und ein schlechter Vater. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass ihn seine Untertanen und seine Töchter nicht lieben. Es war nie ratsam, ihm zu widersprechen – wohl deshalb haben ihm die meisten nach dem Mund geredet.

 

Eine Schlüsselszene wird die Blendung Gloucesters. Seine Feinde schleifen den alten Earl in eine Art Waschküche, er wird gefesselt, verhört und dem Waterboarding unterzogen – ein scharfer Angriff auf die Wiedereinführung der Folter in unserer Zeit. Es ist nicht ganz klar, ob Mendes britische oder amerikanische Geheimdienste angreift – vermutlich beide. Die Botschaft ist unmissverständlich – dieser „König Lear“ ist ein Stück gegen Folter, gegen Tyrannei. Sam Mendes ist nicht nur ein weltberühmter Filmregisseur, sondern auch ein politisch engagierter Theatermann.

 

Kraftvoll zum Grab wanken

Simon Russell Beale, ein etwas untersetzter Akteur mit weißem Bart und militärisch kurz geschnittenem Haar spielt King Lear. Für die Rolle  gilt das Paradox: Wer alt genug ist, Lear darzustellen, kann ihn nicht spielen. Soll sagen: wer so alt ist, dass er überzeugend den greisen König verkörpern kann, hat nicht mehr die Kraft, die Riesenrolle zu meistern. Russell Beale schafft es, bis zum Ende sind ihm keine Schwächen anzumerken. Überzeugend ist vor allem seine Körpersprache. Anfangs ist der König noch viril, aber nach und nach, in dem Maß, in dem ihn die Kräfte verlassen, krümmt er sich immer mehr, verliert er alle Straffheit. Die Enttäuschungen, der Mangel an Respekt beugen ihn im Wortsinn. Wenn am Ende dem König das Herz bricht, setzt der Tod eine Art logisches Ende –   eine Erlösung.

 

Das gesamte Ensemble spielt brillant, es gibt keine Ausfälle. Die Artikulation ist beispielhaft, da können deutsche Schauspieler sich von den britischen Kollegen eine Scheibe abschneiden. Aber sie überbetonen die Musikalität der Verse, immer wieder kommt der hohe Staatstheaterton zum Tragen, Pathos, das leicht hohl wird. Auch Russell Beale ist davon nicht frei – beim Auftritt Lears auf der sturmumtosten Heide setzt sich die alte, problematische Tradition der Royal Shakespeare Company, für die der Mime schon einmal „King Lear“ verkörpert hat,  durch.

 

Ein Vergleich

Vor einem Monat hatte in Wien ein österreichischer „Lear“ Premiere, Regie führte Peter Stein. Er hielt seine Inszenierung abseits allen Pathos, abseits allzu greller Effekte – das tut der Tragödie gut. Aber London hat den Platzvorteil, es wird auf Englisch gespielt. Und die Übersetzung mag noch so inspiriert sein, das Original wird sie (fast) immer übertreffen.

 

Der zweite Handlungsstrang der Tragödie, die Gloucester-Szenen, sind  in London klug herausgearbeitet – es ist ein Höhepunkt, wenn der alte Graf auf seinem Weg nach Dover, feststellt: „Das ist die Seuche dieser Zeit,/Verrückte führen Blinde.“

 

Das Publikum lacht – hier wird die Aktualität auf den Punkt gebracht – und das ist die Quintessenz dieser neuen Inszenierung: Wir leben, wie König Lear, in finsteren Zeiten. Eine provozierende Inszenierung, die das Publikum mit für London ungewöhnlich begeistertem Beifall, ja Jubel aufnimmt.

 

Ulrich Fischer

 

Internet: www.nationaltheatre.org.uk – Box office: 0044 20 7452 3000

Bis 25. März sind alle Vorstellungen ausverkauft; es gibt nur noch (preiswerte) Tageskarten; danach kommen ab Februar wieder Tickets für spätere Vorstellungen an die Kasse.

 

Für den 1. Mai kündigt das Royal National Theatre eine Live-Übertragung in Kinos in aller Welt an.