Kultur für alle

PHOSPHOROS: Johannes Zimmer spielt Lew, einen eogoistischen Physikprofessor
PHOSPHOROS: Johannes Zimmer spielt Lew, einen eogoistischen Physikprofessor

 

 

RECKLINGHAUSEN. Am verflossenen Wochenende wurde das weite Spektrum der Ruhrfestspiele überdeutlich deutlich – und die Leistungskraft der Festspiele, die nach dem Zweiten Weltkrieg (genau 1947) auf Initiative von Bergleuten aus Recklinghausen und Hamburger Künstlern ins Leben gerufen wurden. Pflege des klassischen Erbes und Offenheit für Neues trafen aufeinander.

 

Recklinghausen macht ganz bewusst …

 

Im Großen Haus auf Recklinghausens Grünem Hügel trat am Freitag Isabelle Huppert auf, die bekannteste Schauspielerin Europas. Sie verkörperte die Hauptrolle in Marivaux‘ „Les fausses confidences“ („Falsche Vertraulichkeiten“),  Regie führte Luc Bondy. Er hatte, zusammen mit Peter Stein und der Berliner Schaubühne, in den 80er Jahren Marivaux für die deutschen Theater (wieder)entdeckt und konnte jetzt, zusammen mit alten Gefährten (z.B. Moidele Bickel, die wieder die Kostüme entwarf), auf seine Erfahrungen zurückgreifen. Bondy aktualisierte und ließ das Stück,   1737 uraufgeführt, im Paris von heute spielen. Die Inszenierung war nicht ganz so makellos wie ihr Star, Isabelle Huppert hat eine Wandlungsfähigkeit, die Bewunderung hervorruft, und obwohl sie schon 60 ist (wie ungalant, das zu erwähnen), machte es ihr keine Schwierigkeiten, eine schöne Witwe mit jugendlicher Anmutung zu spielen. Das Publikum ließ sich auch von der Sprachbarriere nicht abhalten, der Beifall war begeistert.

 

… und erfolgreich …

 

Einen Tag später, am Samstag, gab es eine Uraufführung – innerhalb eines ganzen Zyklus‘ von Uraufführungen, die die Ruhrfestspiele in einer eigen Spielstätte präsentieren, der Halle König Ludwig 1/2, einer Art Werkstattbühne. Dort ging zum ersten Mal Nis-Momme  Stockmanns neues Stück über die Bühne „Phosphoros“. Stockmann, einer der erfolgreichen deutschen Dramatiker der mittleren Generation,  hat einen Hang zur Größe und zum philosophisch bohrenden Fragen: Was ist die Zeit? Was können wir Menschen wissen, was bestimmt unser Schicksal?: Wir selbst, die Umstände?

 

Anspruchsvolles Theater mit Engagement. Stockmann plädiert gegen neoliberalen Egoismus und für Initiative: Wir sollen unser Schicksal nicht hinnehmen, nicht erleiden, sondern etwas tun.

 

Das passt prächtig zur Quintessenz von den „Falschen Vertraulichkeiten“. Luc Bondy legt nahe, indem er Marivaux‘ Rokokokomödie in unsere Gegenwart verlegt, dass die Gleichheit – Égalité, eines der drei Ideale der Französischen Revolution – heute noch nicht verwirklicht ist, weiter seiner Umsetzung harrt – und dazu bedürfte es einiger Initiative. Nachdrücklich. Und der Überwindung eines schrankenlos gewordenen Egoismus‘. Die Revolution ist noch lange nicht fertig, der Kampf geht weiter!

 

So bewahren die Ruhrfestspiele den Geist der Väter, der Arbeiterbewegung, und tragen ihn, auch als Auftrag, ins Heute. Schön, dass auch eine Bühne (und was für eine!) aus Frankreich   Recklinghausens Programm bereicherte, die Ruhrfestspiele verstehen sich als europäisches, als internationales Festival.

 

… Bayreuth Feuer unterm, …  äh, Stuhl!

 

Das war von Anfang an so – der Grüne Hügel, auf dem sich stolz das Große Festspielhaus in Recklinghausen erhebt, macht einem anderen Grünen Hügel Konkurrenz. In Bayreuth geht es um einen einzigen Künstler, selbstmurmelnd um einen deutschen, der den Führungsanspruch erhebt und alle anderen unterwirft – gegen diese Einfalt setzt Recklinghausen Vielfalt, gegen Doitschtum Internationales, gegen Führungsanspruch und Hierarchie, Geniekult die Kunst des Ensembles, gegen eine Kunst, die der Führer bewunderte, gegen einen immer anämischer werdenden Elitismus demokratische Kunst.

 

Kultur für alle!

                                                                                                   Ulrich Fischer

Internet: www.ruhrfestspiele.de