Kassandreier

Kassandreier

Karin Beier inszeniert „Tartare Noir“ im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

 

HAMBURG. Kassandra ist eine der furchterregendsten Seherinnen unseres Kulturkreises. Die Griechin, die zur Zeit des Trojanischen Kriegs gelebt haben soll, litt unter dem Fluch des Sonnengottes Apoll. Sie  konnte die Wahrheit (über die Zukunft) vorhersehen – aber niemand glaubte ihr. Kassandra ist längst vermodert, aber sie hat Töchter, Enkelinnen und ihre Urenkelinnen leben bis heute. Eine von ihnen heißt Karin Beier.

 

Kassandra brüllt auch heute noch

 

Sie ist Intendantin des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, kennt die Wahrheit, sie sagt sie als Regisseurin, aber niemand hört auf sie – auch diesmal wird der Fluch Apolls auf ihr lasten, obwohl sie mit aller Kraft gegen ihn anrennt mit ihrer neuesten Inszenierung: „Tartare Noir“.

 

Sie hat ein Abbild ihrer selbst, ein Abbild der schreienden Künstlerin in ihre Inszenierung, eine Collage, eingefügt. Eine der schönsten Schauspielerinnen Hamburgs, die wunderbare Angelika Richter, hat sich zu einer erschreckend schlichten Person zurechtgemacht, die Tagebuch schreibt. Sie wohnt in dem dreistöckigen Haus mit zehn Wohnwaben, die Johannes Schütz auf die große Bühne des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg bauen ließ – isoliert.

 

Am ersten Tag, der den Anfang der Aufführung markiert, ist Edith – so heißt Angelika Richters Rolle – noch naiv. Doch im Lauf des Stücks geht sie den argen Weg der Erkenntnis. Sie bemerkt, dass sie in einem Haus wohnt, in dem alle Kannibalen sind. Einmal wird sie in einem Glasgefängnis eingesperrt, gefesselt, ihr wird der Mund zugeklebt – sie schreibt mit einem Pinsel irgendwie ihre Botschaft an die transparente Wand: „Help!“

 

Schmeckt doch!

 

Im Mittelpunkt steht „Der Schlachter“ (Ernst Stötzner), zu dem alle Hausbewohner pilgern, um ihn um Fleisch zu bitten. Natürlich wird die Hausbesitzerin bevorzugt behandelt,   die anderen müssen sich mit wenig zufrieden geben. Der Schlachter ist ein Tyrann. Die Hausgemeinschaft ist keine Gemeinschaft, sie ist ein Haufen vereinzelter Individuen, die menschliche Defizite pflegen.  Michael Wittenborn beispielsweise spielt einen Musiker und Komponisten, den Gehör und Mitteilungsvermögen weitgehend verlassen haben. Wenn er spricht, nuschelt er vor sich hin, man kann ihn nicht verstehen. Wittenborn liebt seine Rolle (Horst), er nuschelt mit Hingabe, mit so viel Gefühl und Melodie, dass der verstörte Zuschauer meint, er könne (beinahe) verstehen, was Horst meint.

 

Horst hat ein böses Schicksal – der Schlachter schneidet ihm ein Bein ab, damit er es für die Hausgemeinschaftsparty grillen kann.

 

Als Edith erkennt, was da passiert und zu schreien beginnt, sich auflehnt gegen den Kannibalismus, fragt „Der Schlachter“, warum? Das gab es doch immer schon. Und gegrilltes Männerbein ist lecker – was alle bestätigen. Das Ensemble hat zwölf Köpfe, Edith ist völlig isoliert. Selbst Horst isst von seinem gegrillten Bein. Er bekommt einen tollen neuen Rollstuhl und muss dafür nur einen Arm opfern.

 

Eine anspielungsreiche Zwölf

 

Diese Isolation, der Kannibalismus als Metapher für Zerstörung und Selbstzerstörung, ist das durchgängige Motiv – jede der zwölf Figuren leidet darunter. Zwölf: das ist auch die Zahl der Apostel, die Christus folgten. „Tartare Noir“ ist voller Blasphemien und weist auf die Gewaltphantasien in der Frohen Botschaft. Eines der wirksamsten Bilder allerdings handelt nicht vom Kreuz, sondern von einem Fleischwolf. [Bertolt Brecht, um das nur mal anzumerken, war viel radikaler, seine Metapher: Ein Schlachthof.] Eine Frau im Rollstuhl, Ursula, (Kate Strong), schimpft laut  (auf Amerikanisch), ohne sich an jemand im Besonderen zu wenden, und wird in den übermenschlich großen Trichter des Riesengroßen FLEISCHWOLFS gekippt. Während der langsam die schimpfende, hässliche, widerwärtige Frau zermalmt, kommt am anderen Ende Hack heraus: „Tartare Noir“.

 

Der Abend endet nicht gut – in einer Anspielung auf eine frühere Inszenierung (Elfriede Jelineks „Ein Sturz“, 2010 in Köln) wird die Bühne überflutet. Ediths Widerstandsgeist bricht zusammen. Auch sie isst vom Fleisch, auch ihr Mund wird zur Schnauze, blutverschmiert, sie klagt sich an –  mit ihrer Korrumpierung geht dennoch alle Hoffnung verloren.

 

Karin Beier und ihrem spielfreudigen Ensemble ist ein exzellenter Abend geglückt. Die Regisseurin arbeitet systematisch – jede neue Inszenierung übergipfelt die letzten, immer in dem Versuch, den Schrei Ediths nicht nur hörbar(er) & sichtbar(er) zu machen, sondern endlich auch wirksam.

 

Sie verrührt dabei subtil & grob, ganz egal,  Stile: gesellschaftskritischer Realismus, surrealistisch überhöht, wird mit dem Absurden verschmolzen. Aber es nützt nichts. Karin Kassandras Schrei wird lauter, spitzer, unerträglicher, aber sie weiß, Apolls Fluch lastet auf ihr. Wir hören sie, aber wir glauben ihr nicht. Alles geht so weiter. Auch Kassandreier macht weiter.

Scheitern.

 

Besser scheitern! (Beckett).

 

Ulrich Fischer

 

Aufführungen am 22. 9.; 8., 14. und 31. 10. Spieldauer: ca. 2 Stunden