Im Schmelztiegel

 

Ausnahmsweise mal was Ernsthaftes am Broadway in New York

 

NEW YORK. Das Lyceum ist eine Broadway-Bühne in der 45. Straße, ganz in der Nähe vom Times-Square, also im Herzen von New Yorks Theaterviertel. Das alte verstaubte und vergilbte Theater spielt Ayad Akhtar. Sein neues Stück nennt der Dramatiker „Disgraced“, „Entehrt“. Entehrt wird der Held, Amir. Er stellt sich in der Exposition als erfolgreicher Anwalt vor, wohnt mit seiner Frau Emily in einem großzügigen Apartment an „New York’s Upper Eastside“ – den beiden geht es gut, sie gehören zur oberen Mittelschicht. Emily malt in ihrer Freizeit – bis Isaac sie entdeckt, ein Galerist. Isaac ist Jorys Mann, Jory Amirs Kollegin, die beiden arbeiten in einem großen Anwaltsbüro und haben beide Ambitionen; sie möchten gern aufsteigen.

 

Der alltägliche Rassismus

 

Die Vier repräsentieren jenen Mix, mit dem Dramatiker Akhtar ausprobiert, ob die alte Vision vom Meltingpot (Schmelztiegel) New York funktioniert, denn Amir ist Moslem, Emily Christin, Weiße französischer Herkunft; Isaac ist – der Name sagt es schon – Jude und seine Frau Jory „Niggerin“, wie Amir in einem aufgeregten Augenblick politisch höchst unkorrekt herausrutscht – eine strahlend schöne, schwarze, emanzipierte New Yorkerin in ihren besten Jahren.

 

Emily lädt Isaac und Jory zu einem Abendessen ein, denn Isaac hat sich entschlossen, ihr, Emily, eine eigene Ausstellung zu widmen. Die geplante Feier gerät zu Katastrophe, hochdramatisch. Amir, der es offenbar nicht mit allen Geboten des Propheten allzu ernst nimmt, trinkt zu viel und gibt, als das Gespräch auf NineEleven kommt, an. Auch er habe natürlich Grauen und Mitleid gefühlt, wie alle, als die Wolkenkratzer stürzten, aber klammheimlich habe er sich auch gefreut. Da wurde es den arroganten Amerikanern doch mal heimgezahlt. – Alle sind schockiert. Amir wirft Isaac vor, er heuchle. Er freue sich doch auch, wenn Juden ihren   Feinden einen Schlag versetzten … Das Gespräch spitzt sich zu – und wird von Emily mit ehelichen Zwangsmaßnahmen in ruhigere Gewässer geführt: Schließlich soll gefeiert werden.

 

Aber Jory hat noch eine schwerwiegende Nachricht. Als Amir eben runtergehen und noch eine Flasche Champagner kaufen will, begleitet sie ihn. Sie will ihm sagen, dass dem alten Chef, der sich zurückgezogen hat, ein neuer folgt. Nicht Amir, sondern sie.

 

Amir ist empört. Er hat härter gearbeitet als Jory, meint er. Aber er weiß, warum sie ihm vorgezogen wird. Inzwischen sind nicht mehr die „Nigger“ die Nigger, die diskriminiert, entrechtet, denen alle anderen vorgezogen werden, sondern die Söhne Allahs. Er gilt seinen Vorgesetzten in der Anwaltskanzlei als unsicherer Kantonist – als Muslim. Das ärgert – nicht ganz zu Unrecht – Amir, denn gerade amerikanische Anwälte sollten doch Gralshüter des Gleichheitsgrundsatzes sein. Sind sie aber nicht.

 

Sind manche Vorurteile berechtigt?

 

Ganz aus dem Leim gerät der Abend, als Amir und Jory mit dem Champagner zurückkommen – und Emily und Isaac bei einer Umarmung, einem Kuss erwischen. Jory stellt ihren Mann zur Rede, die beiden nehmen ihre Mäntel und das Fest findet einen abrupten Abschluss. Als Amir mit seiner Frau allein ist und von ihr Rechenschaft fordert, will sie beichten – da gerät Amir außer sich und schlägt seine untreue aber reuige Frau brutal zusammen.

 

Im letzten Bild wird die Wohnung geräumt – Emily hat sich von Amir getrennt. Er war empfindlich, reagierte unentschuldbar – und New Yorks Meltingpot funktioniert nicht. Die Metropole (wie Amerika) produziert immer wieder aufs Neue Ausgegrenzte: Farbige, Juden, Muslime, name it; und wenn die Diskriminierten dann so reagieren, wie man es ihnen zuschreibt, mit Gewalt, so ist die Ausgrenzung nicht der letzte Grund für eben diese Gewalt. Andererseits: Nach einer gewissen Zeit der Ausgrenzung können die Betroffenen doch langsamlaaangsam in den Kreis der Gleichberechtigten/Privilegierten hineinwachsen. Freilich müssen sie sich anpassen.

 

Ein tolles Stück, die Handlung überzeugend konstruiert, spannend, starke, pointierte, witzige Dialoge. Die Figuren werfen allerdings Fragen auf – würden Zeitgenossen wirklich heutzutage noch so heftig über religiöse Fragen streiten wie Amir und Isaac? Aber nur so können die Charaktere hochdramatische Cocktails mixen und Bühnentigern Fleisch liefern. Die Inszenierung folgte nach guter aller angelsächsischer Manier sorgfältig, einfühlsam dem Text und die Akteure spielten fast ohne Fehl und Tadel – allerdings ein bisschen weniger Actor’s Studio wäre natürlicher gewesen – eben der unselige Einfluss von Hollywood auf die Theater.

 

Der Dramatiker, Ayad Akhtar, auch Romancier und Schauspieler, ist bei uns, obwohl Pulitzer-Preisträger (2013), noch nicht bekannt. Das sollte sich ändern, „Disgraced“ wäre, trotz des New York –Bezugs – auch was für deutsche Bühnen, für Zuschauer, die perfekt gebaute Stücke ermüdenden Regiewillkürakten vorziehen. Akhtars internationaler Durchbruch steht noch aus.

 

Bislang!

 

Ulrich Fischer