Leben und Tod

 

Ruhrtriiiennale: „nicht schlafen“ von Alain Platel uraufgeführt

BOCHUM.   Alain Platel ist bei der Ruhrtriennale, seitdem sie gegründet wurde. Sein „Wolf“ Anfang des Jahrtausends war ein mitreißendes, sozialkritisches Tanztheaterstück, in dem Schäferhunde („Wolf“) auftraten und die Musik Mozarts („Wolf“gang) eine Hauptrolle spielte. In diesem Jahr ist Platel wieder bei dem großen Festival im Ruhrgebiet, diesmal greift er auf Kompositionen von Gustav Mahler zurück.

 

„Was ich in den vergangenen Tagen über Donald Trump oder Erdogan lese, über den Terror des IS, über den Brexit und den Nationalismus überall in Europa, zeigt beängstigend viele Parallelen mit der Zeit, in der Mahler lebte“, sagt Platel in einem Interview fürs Programmheft. Doch so scharf konturiert wie diese Äußerung ist der Tanztheaterabend nicht, auch wenn er den Imperativ „nicht schlafen“ als Titel trägt.

Kargheit dominiert

„nicht schlafen“ ist armes Theater; Bühnenbildnerin Berlinde De Bruyckere deckt die Hinterwand der Bochumer Jahrhunderthalle mit einer fadenscheinigen, zerrissenen Leinwand ab, im Mittelpunkt liegen drei überlebensgroße Pferdekadaver – Zeichen für Krieg, Tod und Verderben. Doch zunächst beginnt der Abend ruhig, Zeit für uns Zuschauer, sich mit dem Ensemble (les ballets C  de la B) vertraut zu machen, eine höchst ungewöhnliche Zusammenstellung: Acht Herren, eine Dame. Lange dauert der Frieden nicht, schon fangen, aus heiterem Himmel, die Darsteller, ohne ersichtlichen Grund an, übereinander her zu fallen. Dieses Bild ist das triftigste des ganzen Abends: man denkt an Syrien und die Ukraine, an Afghanistan undundund. Analytisch ist die Szene nicht, aber polemisch, sie hat nicht nur Wut, sondern auch boshaften Humor. So sind wir Menschen.

Der knapp zweistündige Abend ist voller Einfälle; einmal hat Sven Prengels, der musikalische Leiter, der auch eigene Kompositionen einbringt, sich von den Geräuschen schlafender Schweine inspirieren lassen, die er mit Mahlers Musik collagiert; ein andermal treten zwei afrikanische Tänzer auf und zeigen mit ungebremster Eitelkeit die Hahnenhaftigkeit junger, gut gebauter Männer. Sie zeigen ihre Brust, ihre Arme, ihre Beine, vor allem ihre Muskeln, ihre Kraft. Sie möchten bewundert werden – aber wer will das nicht?

Tieftraurige Szenen wechseln sich mit vitalen ab und tiefsinnig wird es auch; Nietzsche wird singend zitiert: „… alle Lust will Ewigkeit-, …“ und am Ende siegt der Lebenswille, die Lebenslust, der Élan vital. Zum 1. Satz von Mahlers Symphonie Nr. 2 bekommen die Tänzer Raum zu improvisieren – die meisten Europäer greifen auf ihre gute alte solide Ausbildung in der Ballettschule zurück und springen hoch und weit oder glänzen mit Pirouetten. Die Szene wird den vorherigen Bildern gefährlich, denn diese klassischen Bewegungsfolgen werden Mahler eher gerecht als die Erfindungen des modernen Tanztheaters, die bei Platel an diesem Abend oft allzu beliebig geraten.

Mahler, der 1911 starb, hat vielleicht mit seiner Musik die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt, den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Platel greift diese vage Prophetentum auf, aber er ergänzt die böse Vorahnung mit Optimismus – es kann auch anders sein. Vielleicht können wir ja, entgegen allem Anschein, doch lernen.

Nicht schlafen!

Ulrich Fischer

Aufführungen: 2., 3., 8., 9. und 10. Sept.; Jahrhunderthalle Bochum – Spieldauer: knapp 2 Std.

Kartentel.: 0221 – 280210 – Internet: www.ruhrtriennale.de