Unser Bedarf an Transzendenz

 

Ingrid Lausunds „Trilliarden“ in Hamburg uraufgeführt

 

HAMBURG.   Der Anfang ist atemberaubend. Der fast durchsichtige, halbhohe Gazevorhang, der die Bühne im Hamburger Schauspielhaus verdeckt, wird nach hinten in einen Schlund mit Macht blitzschnell eingesogen, als würde der Schleier, der unser menschliches Bewusstsein bedeckt und verhindert, dass wir die Geheimnisse des Jenseits erkennen, in Sekundenbruchteilen von unseren Augen gezogen und im Nichts verschwinden. Heftiger, kurzer Applaus. Das Publikum ist blendend eingestimmt.

 

Glauben

 

Ingrid Lausund hat für ihr neues Stück „Trilliarden – Die Angst vor dem Verlorengehen“, bei dem sie auch Regie führt, diesen Effekt gewählt, weil er das Hauptthema des Abends umreißt: Glauben. Aber die DramatikerRegisseurin nähert sich dem Zentrum mit Trippelschritten. Die Schauspieler treten nacheinander aus dem vernebelten Dunkel auf, gehen einen Halbkreis und verschwinden wieder im Ungewissen. Sie maulen. Sie haben nur Teile ihrer Kostüme an und sind ganz offenbar mit den Rollen, die ihnen zugewiesen werden, nicht zufrieden. Zu viele Klischees. Aber das Klischee, so hat mir Ingrid Lausund, in der eine Poetin und Philosophin nicht nur schlummert, sondern auch lauert, einmal offenbart, Klischees seien wahr.

 

Die Mutter und der Liebe Gott

 

Angelika Richter, Michael Wittenborn © Klaus Lefebvre

 

Nach und nach bekommen die Schauspieler mehr Kostüme und ihre Figuren mehr Fleisch. Gelungen ist der nicht mehr ganz junge Mann, der, sehr in sich selbst verliebt, seine Gesundheit bewundert – um sich Gedanken an Krankheit und Tod vom Leib zu halten. Aber noch besser ist Angelika Richter in Tutu und hochhackigen Silberschuhen. Sie will Mutter werden und ihr Wunsch wird erfüllt. Sie spricht mit ihren Kindern, die für uns im Zuschauerraum unsichtbar bleiben, und erklärt ihnen, kindgemäß, das Christentum. Dabei verheddert sie sich gehörig in den unserer Religion innewohnenden Widersprüchen: wie soll es einen Gott geben, der die Menschen liebt, und solches Leid zulässt? Wieso hat Gott, wenn er allmächtig ist, die Menschen als Sünder geschaffen? Probleme, die mephistophelische Theologen leicht  eskamotieren, bringen die Mama in Erklärungsnot und ins Schwitzen.   Schließlich kommen noch Muslime, die ihre Toleranz auf die Probe stellen. Soll ihr Kind wirklich auch Muslim werden, nur weil ein Freund ein glaubensfester und missionarisch engagierter JungMuslim ist? Die Mutter entdeckt kämpferische Seiten christlicher Superiorität an sich.

 

Konflikte

 

Zunächst treten die Schauspieler isoliert auf. Als sie später zum ersten Mal zusammenkommen, gibt es sofort Streit – natürlich um Weltanschauungen.   Das führt eine ältere nachdenkliche Dame dazu, dem Elend, dem Krieg, der Gewalt in der Welt in einem (etwas zu ausführlich geratenen) Monolog nachzudenken, im Zentrum des Jenseits eine Hölle zu vermuten (entdecken?) und einen Allmächtigen, der Übles im Schild führt. Sie bekennt, feige zu sein, und ist bereit, sich bedingungslos zu unterwerfen, um dem ewigen Feuer zu entgehen.

 

Doch dabei bleibt es nicht. Ingrid Lausund ist eine menschenfreundliche Dramatikerin. Michael Wittenborn, der einen buddhistisch inspirierten Intellektuellen mit langem Zopf spielt, verwirft alle bisherigen Offenbarungen, und fängt an, eine neue zu schreiben. „Am Anfang“, so meint er, auf den Beginn der Bibel anspielend, waren Liebe, Menschenfreundlichkeit – und ein kühles Bier. Mit dieser realitätsnahen Vision endet des Stück – das Uraufführungspublikum im Großen Haus jubelte und applaudierte am Freitag lange und heftig.

 

Die Schauspieler meisterten ihre kurzen wie ihre langen Auftritte mustergültig, hatten sichtlich Spaß an den Typen, die sie darstellten und den Übertreibungen, servierten die Pointen, sublim  oder seicht, gekonnt, und sorgten für Heiterkeit, Kurzweil und tieferes Verständnis – Ingrid Lausund ist eine ebenso gute Regisseurin wie Dramatikerin. Sie war eine Zeit auf dem Theater kaum zu sehen,  schön, dass sie wieder da ist. Und nicht nur ihr Ensemble ist stark, auch das Bühnenbild kann sich sehen lassen: Beatrix von Pilgrim hat eine teuer aussehende komplexe Konstruktion von Scheinwerfern an den Bühnenhimmel montieren lassen, beweglich mit manchmal hellem Schein: Sterne? Die Sonne? Das All?

 

Das All! Unser Pluriversum ist vielleicht auch mit den Trillionen gemeint. Unser Bewusstsein ist, wenn es sich von Ingrid Lausund und ihren Mitstreiterinnen anregen lässt, mühelos in der Lage mit Hilfe dichterischer Phantasie, der Einbildungskraft, mit Hilfe unseres menschlichen Bewusstseins in dieses All vorzudringen und darüber hinaus: „Trillionen“ von Lichtjahren – um über unsere „Angst vor dem Verlorengehen“ nachzudenken, darüber zu schmunzeln und ebenso nach Offenbarungen zu suchen wie sie dann wieder in Zweifel zu ziehen und Trost zu suchen in unseren Erkenntnissen, Mutmaßungen, Konstruktionen & Spekulationen.

 

Theater und Trillionen für alle

 

Ingrid Lausund nutzt nicht ein einziges Wort, das ein Durchschnittseuropäer nicht verstehen könnte. Abseits aller Aufge- und Verblasenheit spricht sie über anspruchsvollste transzendentale Probleme, schlicht, nie seicht – ein großer Abend, der nicht nur die Frage nach Orientierung aufwirft, sondern auch ein paar positive Vorschläge macht: Seid nicht zu pessimistisch, verteidigt Eure Überzeugungen und hebt nicht ab! Ein Theater über das Einfache, das so schwer zu machen ist.  Und es scheint doch möglich – wie die „Trilliarden“ überzeugend darlegen.

 

Ein neues Juwel im Repertoire des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Eben hat die Intendantin, Karin Beier, ihren Vertrag bis 2021 verlängert. Gut so!

 

Ulrich Fischer

 

 

Aufführungen am 10., 15. u. 19. Feb.; 26. u. 28. März. –  Aufführungsdauer: knapp 2 Std.

Kartentel.: 040 24 87 13 – Internet: www.schauspielhaus.de