Des Chaos wunderlicher Sohn

Des Chaos wunderlicher Sohn
Frank Castorf inszeniert Goethes „Faust“

BERLIN. „Faust“ gilt als schwer zu inszenieren: Diesseits & Jenseits, Gott & Teufel, Männer & Hexen – zwei lange Teile; Peter Stein hat die Tragödie (2000) ungekürzt gespielt – er brauchte zwei Tage. Regisseure wenden sich diesem Brocken Welttheater meist erst am Ende ihrer Laufbahn zu – wenn sie über genügend Handwerk und Kunst verfügen. So auch Frank Castorf. Er verlässt am Ende dieser Spielzeit die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, die er lange 25 Jahre von Erfolg zu Erfolg geführt hat, und wählte als letztes großes Stück – eben Goethes „Faust“.

Castorf hat sich den Ruf eines Dekonstrukteurs und Stückezertrümmerers redlich verdient. Er ist außerordentlich scharfsinnig und sucht die inneren Widersprüche der Dramen, die er inszeniert, auf – nicht um sie zu verdecken, sondern um sie zu betonen. Im Glücksfall kommen dabei Inszenierungen heraus, die gleichzeitig ein neues Licht auf das Stück werfen und kritisch unsere Gegenwart: Politik und Gesellschaft beleuchten.

Fausts Ursprung

Goethe hat „Faust“ als Volksbuch vom Ende des Mittelalters und als Puppenspiel schon als Junge kennengelernt – Doktor Faustus galt als Zauberer und war seinen Zeitgenossen im 16. Jahrhundert unheimlich. Er war, wähnten sie, mit dem Teufel um Bunde und wurde am Ende von ihm geholt – in die Hölle, versteht sich. Im Volksbuch gibt es Hinweise, dass Faustus auch bewundert wurde, als kühner Mann, der den Aberglauben seiner Zeit verwarf und gesetzte, törichte Grenzen kühn überschritt. Er lebte an einer Zeitenwende und ließ das Mittelalter hinter sich, ein Mann der Neuzeit.

Faust im 20. Jahrhundert

In der Volksbühne ist davon nichts zu sehen. Castorf siedelt seinen „Faust“ in Paris an, Bühnenbildner Aleksandar Denic baut als zentrales Element die U-Bahn-Station „Stalingrad“ auf die Drehbühne. Dahin hat der Pakt Fausts, eines Repräsentanten des Bürgertums, geführt: Zu Krieg und Verwüstung.

Die Treppe hinab in die U-Bahn ist die Treppe in die Unterwelt, dort treffen sich alle in einer Kneipe mit dem Namen „L’Enfer“ – Französisch für Hölle. Die französische Politik spielt überhaupt eine große Rolle, vor allem Frankreich als Kolonialmacht.

Herren und Knechte

Offenbar hat sich Castorf vom 2. Teil der Tragödie anregen lassen, Faust kolonisiert einen Küstenstreifen und lässt Philemon und Baucis von ihrem Grund vertreiben – wobei sie zu Tode kommen. Faust ist also eine Art Kolonialherr – und die Franzosen werden wegen ihrer Kolonialgeschichte in Castorfs Inszenierung scharf angegriffen. Nicht zuletzt von Franzosen selbst, insbesondere von Theoretikern der Revolution, z.B. Sartre. Er propagiert die Gewalt als einzige Möglichkeit der Emanzipation der Erniedrigten und Beleidigten.

Hier gewinnt Castorfs Inszenierung die bedrängendste Aktualität. Sind nicht die Flüchtlinge, die nach Europa wollen, Ergebnis der Kolonisierung? Und des Scheiterns der Befreiung?

Collage mit Schauspielern

Diese theoretischen Erörterungen sind untheatralisch, szenisch trocken – sie gehören zwischen zwei Buchdeckel. Aber sie sind nur ein Bestandteil einer wilden Collage: Zitate aus amerikanischen Tanzfilmen (gekonnt, Respekt!) gibt es ebenso wie französische Chansons, Schlager und, wie immer bei Castorf, lange Videosequenzen, die auf große Bildschirme projiziert werden – sowie Bruchstücke, Rudimente aus „Faust“. Die Szenen kommen aber keineswegs in der gewohnten Ordnung vor, sondern purzeln durcheinander. Zum Beispiel kommt relativ spät die Szene in der Hexenküche – wobei, anders als bei Goethe, die Verjüngung Fausts der Haupthexe (überragend: Sophie Rois) missglückt. Castorf ist Realist. Dann folgt die Diskussion mit Wagner, dem Assistenten Fausts – bei der 2. Aufführung, die ich gesehen habe, auch gespielt von Sophie Rois, übrigens eine der besten Szenen, sehr komisch. Faust will seinen Famulus loswerden, der merkt es aber nicht. Er ahmt Fausts Rezitation nach – die Schauspieler übertreiben, das Publikum lacht entzückt. Dann folgte eine ernste Szene: Faust erzählt von seinem Vater, der als großer Arzt angesehen wurde, tatsächlich aber ein Quacksalber war, dessen Kuren viele Patienten zum Opfer fielen. Die Rois spannt großartig den Bogen von Farce zu Tragik. – Bilder aus dem zweiten Teil wurden vor Szenen des ersten Teils gespielt – ganz egal, wichtig ist Castorf wohl das Chaos. Das Chaos auf der Bühne entspricht dem Chaos in unserem Leben. Castorf glaubt nicht an Ordnung und ist gegenüber Theorien eher skeptisch.

Zum Ensemble

Sophie Rois spielt am besten an diesem Abend, Martin Wuttke als Faust, Marc Hosemann als Mephisto und Valery Tscheplanowa blieben hinter ihr zurück – obwohl man dem ganzen Ensemble den Respekt nicht versagen kann. Sieben Stunden Spielzeit stemmten sie, es gab immer wieder Höhepunkte, bewundernswerte Wandlungsfähigkeit, und die Schauspieler wirkten auch am Ende noch kraftvoll.

Das Ende gelang über Erwarten. Der zweite Teil hatte Längen. Castorf wob Zolas „Nana“ in seine Inszenierung ein – vielleicht, um Gretchen und ihren Langmut näher zu untersuchen. Die Frauen lassen sich in „Nana“ von ihren Männern viel zu viel gefallen – Castorf kritisiert nicht nur die Männer, die sich die Frauen unterwerfen, sondern auch die Unterjochten, die sich nicht wehren.

Die Längen wollten gar nicht aufhören, aber dann kam doch das Ende. Alle „Faust“-Freunde und –kenner haben eine Überzeugung, wie das Stück endet. Am Anfang gibt es eine Wette: Mephisto schließt den Pakt mit Faust und dient ihm, bis Faust zum Augenblicke sagt, „verweile doch, du bist so schön“. Hat er das nun am Ende gesagt? Darf Mephisto ihn mitnehmen und in der Hölle braten?

Gewinn und Verlust

Oder hat Faust gewonnen und Mephisto ausgetrickst? In der Volksbühne wird referiert, dass ein Drittel der Faustkenner für die eine, ein weiteres Drittel für die zweite Lösung und das dritte Drittel unentschieden ist. Unentschieden scheint auch Castorf zu sein und die Wahl jedem einzelnen Zuschauer zu überlassen. – Das ist heiter und geistreich.

Heiter und geistreich ist die ganze Inszenierung – aber nicht immer souverän. Es gibt Längen – gerade bei den „Nana“-Ausflügen im zweiten Teil. Kürzen, gerade bei sieben Stunden Spieldauer – wäre dringend notwendig gewesen, auch aus Rücksicht auf die Zuschauer. Einmal fragt Daniel Zillmann, der den Theaterdirektor spielt, ob das Spiel nicht sehr unklar wäre, und wenn ja, nicht viel zu lang.

Es gab zustimmendes Gelächter und Szenenbeifall.

Ulrich Fischer

Aufführungen am 10., 12., 17., 18. und 31. März.; 1., 14. und 15. April. –Aufführungsdauer: 7 Std.
Theaterkasse: 030 240 65 777 – Internet: www.volksbuehne-berlin.de