Mit Schrotflinte und blondem Haar

Tempora mutantur …

Eine Verhaftung à la italiana – als vermeintlicher Tiroler Freiheitskämpfer im Jahre 1967

Von Günther Hennecke

Mailand/Köln/Po-Ebene – Ich war 31, Examen und Promotion lagen seit drei Jahren hinter mir. Was mich noch drückte, war ein großer Teil meiner während des Studiums aufgelaufenen Darlehens-Schulden in Höhe von 10.000 DM. Sie schneller als gedacht los zu werden, hatte mich ein gnädiges Schicksal endlich einmal auf die Sonnenseite des Lebens verschlagen: Fotomodel war ich. Ein Gewerbe, das mir eine Menge Moos aufs verwaiste Konto spülte.
Viel Moos, viel Sonne und Sorglosigkeit
Eigentlich hätte ich es also gut sein lassen können. Doch 400 DM am Tag zu verdienen, als das Jahres-Durchschnittseinkommen eines Deutschen bei 9.000 DM lag, kann gute Vorsätze leicht zuschanden machen. In jeder Beziehung. Viel zu verdienen, zudem nicht selten in südlichen Gefilden vor der Kamera zu stehen, Sonne und lockeres Leben genießen, war einfach sehr verführerisch. Das ist lange her, genau 53 Jahre. Man schrieb das Jahr 1967.
Neugier auf unvergessliche Menschen
Doch wie das manchmal so ist im Leben: Fragen nach dem einstigen Leben tauchen auf. Fragen nach Erlebnissen, die sich eingebrannt haben, Neugier nach Menschen, die man einst kannte und mit denen man Unvergessliches erlebt hat. Die schließlich aber vergessen und in der Vergangenheit verloren gegangen sind. So ging es mir in diesen langweiligen Corona-Tagen kurz vor Ende des ganz und gar nicht „wonnigen“ Monats Mai des Jahres 2020. Was macht eigentlich Bob Krieger? Der Fotograf, den ich einst, in den Sechziger-Jahren, als Model kennengelernt habe. In Mettmann bei Düsseldorf, wo er mit dem bereits international renommierten Mode-Fotografen Stephan lebte und arbeitete.
Bob Krieger: „Komm nach Mailand!“
Als er sich wenig später, 1967, in Mailand niedergelassen und selbständig gemacht hatte, lockte es auch mich in die Lombardei. Bob machte mir die Entscheidung, für einige Zeit in Mailand zu leben und als Fotomodell zu arbeiten, leicht. „Komm mit nach Mailand“, hatte er mich gereizt. „Wir fangen beide neu an.“ Nun muss man wissen: Bob Krieger, 1936 im ägyptischen Alexandria geborener Kosmopolit, war durch und durch Italiener. Doch die längste Zeit seiner bisherigen 31 Lebens-Jahre hatte er außerhalb seines geliebten „Stiefels“ gelebt. Was sich, soweit ich das zu beurteilen vermochte, auch in einem etwas holprigen und keineswegs akzentfreien Italienisch zeigte.
Verdächtig: Blond, groß und mit Schrotflinte
Das wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte dieses kleine Manko, verbunden mit einer von mir offen zur Schau getragenen Schrotflinte, also einer Waffe in der Hand eines blonden, zweifellos ausländischen Nordeuropäers, eines Tages nicht fast dazu geführt, von der Gendarmerie am Rande der Po-Ebene nicht nur einvernommen, sondern auch eingelocht zu werden. Doch dazu später – und gemach: In Italien ist (fast) alles nicht so dramatisch wie es zunächst scheint.
Über ein halbes Jahrhundert später
Wie also mochte es diesem Bob Krieger, mit dem ich damals in Mailand, in der ersten Hälfte des Jahres 1967, so oft und freundschaftlich zusammen gearbeitet hatte, heute ergehen? Schließlich war auch er nicht mehr der Jüngste. Ob er noch lebte? Zur Berühmtheit geworden war? Ein Blick ins Internet sollte, 2020 und damit über ein halbes Jahrhundert später, dabei helfen. Doch emotional berührender konnte dieser Blick nicht enden: Bob Krieger war, nur wenige Tage bevor meine Neugier erwacht war, am 7. Mai 2020, in der Dominikanischen Republik gestorben. Der Mann, dessen Freundschaft ich einst für kurze Zeit genießen durfte, hatte, wie zu lesen ist, vor allem mit Künstler-Portraits Erfolg und Ruhm in seiner Heimat Italien erlangt. Für die „Vogue“ war er unterwegs, und mit Arbeiten für den „Esquire“, „Harper‘s Bazaar“ und das „New York Times Magazine“ hatte er sich auch international einen Namen gemacht.
Misstrauische Gendarmerie in Po-Ebene
Davon hatte Bob Krieger anfangs nur träumen dürfen. Er musste sich erst einen Namen machen. Damals, Anfang des 67-er Jahres, begann es. Aus dieser Zeit ragt, wenn auch nicht gerade künstlerisch eindrucksvoll, ein gemeinsames Erlebnis am Rande der Po-Ebene heraus. Es muss irgendwann im Frühsommer gewesen sein. Jagdkleidung war das Thema des Foto-Termins. Dazu gehörte natürlich, als passendes Requisit, eine Schrotflinte. Wie anders sollte eine Jagd erfolgreich sein. Mal hatte ich sie über die Schulter gelegt, mal hielt ich sie im  Anschlag. Schließlich ging es um Werbung! Und die sollte realistisch wirken!
Aus Mode-„Jägern“ werden Gejagte
Doch nicht lange nach den ersten „Schüssen“ mit der Kamera waren wir selbst zum Objekt einer „Jagd“ geworden. Verdächtig langsam näherte sich uns ein Wagen der örtlichen Gendarmerie. Ein drohendes Zeichen in einer ansonsten menschenleeren, der Natur offenbar völlig überlassenen Ebene am Rande des Po. So schien es, und so war es – wenn auch nur für einige Stunden.
„Bitte folgen“! Zur Vernehmung
Doch der Foto-Tag war zu Ende, ehe er wirklich begonnen hatte. Wir durften, freundlichst dazu aufgefordert, dem Gendarmen-Wagen folgen. Ins nächste Städtchen, auf die dortige Polizeistation. Doch die Höflichkeit der, wie stets in Italien, bestens gekleideten Vertreter der Exekutive mit flott in die Stirn gezogenen Schirmmützen, konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass es dem Duo sehr ernst war – uns davon zu überzeugen, Gesetze verletzt zu haben. Schnell wurde mir, bei aller Unkenntnis des Italienischen – meine Latein-Kenntnisse konnten zwar ein wenig beim Verständnis helfen, aber nicht alle „Lücken“ füllen – klar: Es ging um die Waffe, dieses doch sehr wenig „martialische“, eigentlich harmlose „Jagd-Rohr“, das nur Schrot-Kügelchen zu verteilen imstande ist. „Kügelchen“ immerhin, die auf der Jagd nach Trophäen zweifelhafter Provenienz helfen könnten. Doch nur zur Erinnerung: Wir waren in die Po-Ebene gefahren, um dort möglichst naturnahe Jagd-Mode-Fotos einzufangen.
Tragen von Waffen verboten
Das schien unseren Capitano aber wenig zu interessieren. Ich hatte eine Waffe, die ich ohne Waffenschein nicht hätte tragen dürfen. Gefühlte zwei Stunden lang blätterte unser Vernehmungsoffizier hin und her in einem überdicken Wälzer. Es war, wie mir bald klar war, unserem deutschen BGB vergleichbar. Und darin steht, so vermutete ich scharf und ahnungsvoll, dass das Tragen von Waffen, zumal in der Hand verdächtiger Ausländer, bei Strafe verboten war.
Gefahr für die Sicherheit Italiens
Nun mag man denken: Wie sollte und konnte ein einzelner blonder Ausländer, zumal als Model eines italienischen Fotografen, eine Gefahr für die Sicherheit Italiens sein? Dazu ist es unumgänglich, den eigentlichen, den bedrohlichen Kern dieser zunächst so kurios anmutenden Situation am Rande der Po-Ebene deutlich zu machen.
Erinnerung an blutige Tage in Südtirol
Ein Blick in die Geschichte ist dazu wichtig, in die Sechziger-Jahre in Südtirol. Es waren nämlich Jahre eines blutigen Südtiroler Widerstandes gegen die bewusste Italianisierung ihrer Heimat und damit der Überfremdung dieser uralten Provinz Österreichs. Tausende Süditaliener wurden in diesen Jahren zwangsweise in den deutschsprachigen Norden Italiens verpflanzt. Dagegen begehrte die SVP, die Südtiroler Volkspartei, auf – und extreme Kräfte verübten auch terroristische Anschläge. In die Geschichtsbücher eingebrannt hat sich die „Feuernacht“, in der, vom 11. auf den 12. Juni 1961, 37 Strommasten in die Luft gesprengt worden waren. Ein Konflikt hatte damit den Höhepunkt der Gewalt erreicht, die 1964 dann noch einmal eskaliert war.
1967 – Ein letztes Mal explodiert Strommast
Verhaftungen folgten, zahllose Tote waren die Folge. Um nun einen Bogen zu unserem Erlebnis in der Poebene zu schlagen: Im selben Jahr, also 1967, war in den Kärnischen Alpen noch einmal ein Strommast in die Luft gejagt worden. In der Folge dieses Terroranschlages waren noch harte Auseinandersetzungen an der Tagesordnung – und ein letztes Aufbäumen der Südtirol-Aktivisten.
Nun dürfte klar und nachvollziehbar sein, wieso ein einzelnes Jagdgewehr in der weit entfernten Po-Ebene, fern von Südtirol und Mailand, unsere Carabinieri so nervös und neugierig gemacht hatte. Und dazu noch in der Hand eines nun wirklich nicht sehr italienisch aussehenden Blondschopfes. Hatte man etwa einen Südtiroler Separatisten auf terroristisch begründeter Spur ertappt? So wurde der Gesetzes-Band also gewälzt und in ihm geblättert. „Hier“, so schien mir die Argumentation der Beamten, „steht, dass das Tragen von Waffen, zumal für Ausländer, verboten ist“. Da konnte selbst Bob, damals gerade noch nicht mit allen Wassern „seiner“ italienischen Sprache und Grammatik gewaschen, nur immer wieder die Harmlosigkeit unseres gemeinsamen Tuns betonen.
Plötzlich war alles vorbei
Was ich freilich verstand, war äußerst fragwürdig. Und so hatte ich mich, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, bereits darauf eingestellt, die kommenden Stunde unfreiwillig im Polizei-Gewahrsam eines Dorfes in der Poebene zu verbringen. Doch der Blonde aus dem gar nicht Südtiroler Norden erlebte, wie so oft und immer wieder, von einer Sekunde zur anderen, dass Italien mit anderen Ländern so ohne weiteres nicht zu vergleichen ist: Schon garnicht mit deutschen Landen! Alle tief schürfenden Hinweise, Drohgebärden, Paragraphen und Gesetze schienen sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben: Unser Staatsvertreter, ein dem Gesetz verpflichteter Beamter, zuvor Stunden lang „Gegner“, wurde zum „Freund“. Er klappte das dickleibige Gesetzesbuch lautstark zu, lächelt uns an – und machte mit einer lässigen Handbewegung deutlich: „Haut ab!“ Was wir gerne und ohne langes Zögern auch taten. Viva Italia!
Tag einer erwähnenswerten Erinnerung
All das ist lange Jahre her. Aber immer noch und immer wieder ein Anlass, über Menschen und Situationen nachzudenken. Und dabei festzustellen: Das Leben kann so reich sein an interessanten Ereignissen, Erinnerungen und menschlichen Begegnungen! Man sollte sich gerade an sie immer wieder einmal erinnern.
Es ist nie zu spät. Selbst der Tod kann daran nichts ändern. Bob Krieger lebt nicht mehr. Ist er deswegen vergessen? Mitnichten! Vielleicht sind es wirklich gerade die kleinen Dinge, die sich einprägen! So wie der erinnerungswerte Tag in der Po-Ebene. Im Frühling eines beliebigen Tages im Jahr 1967.

… et nos in illis.