Summa Summarum

Christoph Heins neuer Roman „Das Narrenschiff“

„Das Narrenschiff“ wiegt als Titel in der deutschen Literaturgeschichte schwer. Sebastian Brant hat 1494 seine Satire über Deutschland „Narrenschiff“ genannt – und Narren, das waren (wir) alle. Christoph Hein knüpft nicht nur an den Titel an, auch sein Roman hat satirische Züge – sein Narrenschiff ist die DDR:

Der zeitliche Rahmen umfasst über vierzig Jahre und beginnt mit dem Rückflug kommunistischer deutscher Exilanten von Moskau nach Berlin 1945. Sie übernehmen die politische Führung unter der Vormundschaft der Sowjetunion in Deutschlands Osten und bekommen nach und nach Profil. Christoph Hein schildert frei erfundene Figuren, aber er lässt auch historische Persönlichkeiten auftreten. Hier wird Heins intime Kenntnis der DDR als eine der Stärken des Romans kenntlich: bei Hein wird z. B. Walter Ulbricht nicht in eine einfache antikommunistische Schublade gesteckt, Hein betont dessen Engagement für einen unbeschnittenen Osten Deutschlands – Schlesien, Pommern; Ulbricht scheiterte, die Sowjets entschieden, diese Länder Polen zuzuschlagen. Mit Ulbrichts Plaidoyer für Schlesien und Pommern  einher geht der Hinweis, dass ein kleiner Osten als Staat kaum lebensfähig sein würde.

Dies ist der Generalbass des Romans, die Frage: Warum  scheiterte die DDR?

Ein besonders überzeugender Argumentations-Strang gelingt Hein mit einem Mitglied des Politbüros: er ist der einzige Intellektuelle  (und also isoliert)  in dem führenden Gremium, ein Ökonom. Die anderen haben ihn zwar in ihre Gruppe aufgenommen, aber dulden ihn nur, er dient ihnen als ihr Feigenblatt, sie sind nackt, Doktrinäre ohne Wissenschaft, halten den Finger in den Wind, um zu erfahren, wohin sie sich wenden sollen. Diese Orientierungslosigkeit, dieser Mangel an Grundlagenwissen ist einer der Hauptgründe für den Untergang, folgt man Hein –   seine Argumentation wirkt überzeugend.

Der Stalinismus und dessen Überwindung – das sind starke Episoden des Romans: deutschen Opportunismus in seinen Spielarten schildert Hein so virtuos, dass es eine Lust ist. Wobei Hein sich nie überhebt, sondern unter Hinweis auf den stalinschen Terror erklärt, warum so viele Kommunisten widerspruchslos gehorchen. Wie Revolutionäre zu   Schafen regredieren, die brav blökend dem Großen  Schäfer folgten, das ist auch eine Erklärung für den Nieder- und Untergang, die Hein bedrückend detailliert und überzeugend schildert.

Am Ende kommt die Wende; die meisten Figuren werden sogar noch um ihr kärgliches Erbe betrogen – die Niederschriften des Grundbuchs erweisen sich stärker als die neubegründete Tradition – die folgenlos bleibt.

Eine traurige Bilanz, ein großartiges Buch; der Verlust hochfliegender Hoffnungen und der Hinweis auf eine langanhaltende Tradition deutscher Literatur und Politik – ein Narrenschiff.

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P.S. Ein paar Korinthen, die das Gesamtprädikat „großartig“ nicht wirklich beeinträchtigen können und sollen: Es gibt Schwerfälligkeiten im Stil: mitunter Imperfekt, wo Perfekt näher gelegen hätte; mehrfach verwendet Hein die in letzter Zeit wieder in Mode gekommene Wendung „geschuldet“ – wo er   ungeblähter formulieren könnte, es geht eigentlich um Ursachen, hat nix mit „Schuld“ zu tun (Marx hat übrigens den Ausdruck auch mehrfach benutzt, ebenso unpassend). Einmal hab ich gemeint, ein Komparativ wäre geschmeidiger gewesen.  Das sind Korinthen, die aber weniger Christoph Hein angelastet werden sollten als seinem Lektor.

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Diese Korinthen stehen indes nicht allein oder isoliert. Mitunter hatte ich bei der ersten Lektüre den Eindruck, eine Beschreibung stehe im Widerspruch zu einer anderen   oder eine Mitteilung käme zweimal vor, Doppelungen, Redundanzen. Das führte mich zu einer abenteuerlichen Vermutung: Christoph Hein hat sein Buch aus einzelnen Kapiteln zusammengestellt, sie (chronologisch) hintereinander gefügt (gehauen), dann aber den letzten Schritt vergessen oder aus anderen Gründen unterlassen, so dass er letztendlich keine Widerspruchsfreiheit hergestellt hat. Das kann passieren (zumal er Jg. 44 ist, also nicht mehr der Jüngste) oder Absicht sein, letzteres z.B. um darauf hinzuweisen, wie unzuverlässig die Erinnerung ist.

Für mich ist aber eine andere Möglichkeit plausibler, ein Hinweis auf das Werk Christoph Heins – er hat sich nicht ausschließlich mit deutscher Geschichte beschäftigt – aber dies ist doch der Schwerpunkt seiner Arbeit. Und so erscheint Das Narrenschiff eine Kompilation, ein Zusammenfügen von Heins gesamter (Lebens)Arbeit. In Jahren, in denen die Arbeitsfähigkeit sich vermindert, zieht Hein Bilanz. Und die Episoden fügen sich – kleine Unebenheiten sind unerheblich.

Für uns   ist die Bilanz unerfreulich (- eher als für ihn): wir sind hinter unseren Möglichkeiten zurück geblieben (er kaum) – hinter unseren Träumen weit. Es ist gut, sich darüber klar zu werden und sich nicht zu täuschen.

Wer redlich ist, müsste sich jetzt entschließen, neu anzufangen.

Christoph Hein: Das Narrenschiff.  Suhrkamp 2025.  750 S.; 28,00 €.