Besser spät als nie

Tom Stoppards „Coasts of Utopia“ endlich auf Deutsch

WIESBADEN.  In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wetteiferten zwei herausragende Dramatiker in England um den Lorbeer. David Hare schrieb eine Trilogie – die Spitze dramatischer Meisterschaft im Abendland –   Tom Stoppard folgte. Sir David, den die Queen wegen seiner Verdienste um das britische Theater zum Ritter geschlagen hat, ist ein Progressiver. In seiner Trilogie greift er die herrschende Klasse an: sie ist inkompetent, herz- und hirnlos, unfähig zu herrschen. Sir Tom, den Elisabeth II. ebenfalls zum Ritter geschlagen hat, ist konservativ. In seiner Trilogie attackiert er führende Revolutionäre: sie haben ein falsches Menschenbild, predigen Solidarität, obwohl sie schon untereinander spinnefeind sind, und sehen als alte Männer ein, dass die Ideale ihrer Jugend sie fehlgeleitet haben. Revolution, ein schöner Traum, aber er ist nicht zu verwirklichen in der Welt, wie sie nun einmal ist.

In der jüngsten deutschen Theatergeschichte gibt es nichts Vergleichbares auf derart hohem Niveau. Dennoch dauerte es von der Uraufführung von Stoppards „Coasts of Utopia“ 2002 in London bis zur deutschen Erstaufführung in Wiesbaden sagenhafte 20 Jahre.

Matze Vogel als Alexander Herzen – Foto: Karl und Monika Forster

Aufbruch

Im ersten Teil, „Aufbruch“, rückt Stoppard Bakunin in den Mittelpunkt. Er skizziert ihn als idealistischen Wirrkopf. Sein Vater, ein kleiner russischer Landadliger, schickt den Jungen zur Armee, er soll Offizier werden, wie sich das für einen jungen Mann seiner Klasse schickt. Bakunin wirft 20jährig hin, liest die modischen neuen Bücher aus dem Westen und schwärmt für die Französische Revolution. Er wird zum Wolkenschieber, versucht sich in den Zänkereien der großen Philosophen zurechtzufinden – vergeblich. Was ihm heute richtig scheint, wirkt morgen falsch. Und von Philosophie kann man ebenso wenig leben wie von Literatur. Bakunin macht Schulden, die sein Vater bezahlt, lebt also auf Kosten der Leibeigenen, die er befreien will – ein unaufhebbarer Widerspruch.

Stoppard skizziert treffend indirekt die Schrecken der zaristischen Selbstherrschaft, die Gefahren der Zensur – die jungen Leute haben ja Recht, wenn sie rebellieren – aber sie haben keine Strategie und werden leichte Beute ihrer gnaden- und gewissenlosen Feinde. Bakunins Vater versucht den Sohn zu Raison zu bringen, er soll wenigstens Landwirtschaft studieren. Die Mahnung ist in den Wind gesprochen..

Der erste Teil ist kein „Aufbruch“, wie der Titel verspricht, sondern ein krachendes Scheitern. Der Vater, alt, fett und unbeweglich geworden, hat sein Augenlicht verloren.  Bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Wiesbaden erinnert er an „Pozzo“ aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“ – und Vater Bakunin beschreibt einen Sonnenuntergang(!), den er nicht mehr sehen kann. Das ganze Ensemble ist auf der Bühne, eine Familie im Niedergang wie bei Tschechow, mitten drin eine symbolistische Figur, groß wie ein Athlet, in rotem Kostüm  wie der Tod bei Edgar Allen Poe, mit einer Katzenmaske – vielleicht verkörpert diese Kunstfigur das Verhängnis, das der Grund für die Aussichtslosigkeit jeder Umwälzung, jeder Änderung ist, das rätselhafteVerhängnis, dem die Revolutionäre zum Opfer fallen.

Aber es kommt noch schlimmer.

Schiffbruch

Im zweiten Teil – „Schiffbruch“ – rückt  Stoppard  Alexander Herzen in den Mittelpunkt. Der Dramatiker schildert seinen Protagonisten als scharfsinnigen Denker, Revolutionär mit menschlichem Antlitz und erfolgreichen Publizisten. Er schreibt nicht nur grundlegende Artikel, er ist auch als Herausgeber tätig. Herzen ist reich und kann in seine Blätter investieren.

Sein Reichtum macht ihn aber auch angreifbar – gerade bei seinen Genossen. Warum sollte ein Reicher ihre Sache vertreten? Aber Herzen wird auch zur Anlaufsteller vieler Wünsche – er soll dieses Projekt unterstützen und jenen Aufstand. Vor allem Bakunin bittet ihn immer wieder um nicht unerhebliche Summen.

Im Privaten folgt auf Glück Schmerz. Seine Frau wird ihm untreu – Anlass für viele hochexplosive Konflikte zwischen den Damen – und hier fällt zum ersten Mal auf, dass das Ensemble doch nicht so großartig und leistungsfähig wirkt wie anfangs. Expressive Exaltationen überfordern einige Schauspielerinnen.

Die revolutionären Aufbrüche scheitern – sie erleiden „Schiffbruch“ – daher der Name des Mittelstücks.

Bergung

Das Finale – „Bergung“ – folgt dem begonnenen Prozess – es geht bergab mit Herzen und seinem großen Projekt. Hier beschreibt Stoppard ausführlich den Streit zwischen den Revolutionären, nicht nur deren Elend im Exil, sondern auch ihre Rechthaberei, ihre Streitsucht und ihre Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Obwohl der Spaltpilz der beste Freund ihrer Feinde ist, finden die Revolutionäre nicht mehr zusammen.

Das Ende hat Stoppard sorgfältig vorbereitet. Angesichts des nie endenden Streits, der ewigen Geldwünsche, des Egoismus, der seine giftigsten Blüten bei den Frauen, die um ihn werben, und bei seinen Kindern treibt, fällt seine Quintessenz bitter aus: Die Revolution sei gescheitert. Erwachsen werden heiße, das einzusehen. Es werde immer Konflikte geben – man müsse mit ihnen leben.

Ensemble – Foto: Karl und Monika Forster

Überzeugungskraft

Diese Auffassung vertreten viele Konservative – aber nur wenige haben sich so umfassende Kenntnisse aus der Geschichte der Revolution angeeignet – Stoppard hat sich gründlich mit seinem Thema auseinander gesetzt, er kennt sich viel besser aus als die meisten seiner Gesinnungsgenossen, die einfach nur behaupten, was ihnen zu pass kommt. Stoppard führt eine echte Debatte, fair – und Fairness gehört(e)  zu den Ruhmesblättern der Briten.

Aber sein Rivale argumentiert überzeugender, David Hare zeigt, dass es so nicht weitergehen kann mit der Inkompetenz, der Habgier und dem Machtmissbrauch der herrschenden Klasse. Es gibt nur einen Ausweg:

Wiesbaden muss ran

Wiesbaden hat gezeigt, dass ein mittleres Stadttheater eine große Trilogie stemmen kann. Sie haben endlich ein wichtiges englisches Stück unseren Bühnen erschlossen – ein großes Verdienst.  Das Ensemble wirkte trotz eines Ausfalles leistungsstark, spielfreudig und hatte mit Matze Vogel einen herausragenden Darsteller, der die höchst anspruchsvolle Rolle von Alexander Herzen meisterte.   Auch in mittleren Ensembles finden sich immer wieder Spitzenkräfte.  Henriette Hörnigk führte wacker Regie, allerdings nahm sie mitunter zu sehr Partei gegen die armen Revolutionäre, Georg Herwegh z. B. erschien einseitig als pfaueneitler Salonsozialist – die Meinung Stoppards wäre auch ohne diese Überdeutlichkeit zum Tragen gekommen. – Um die Fairness der britischen Debatte über den Ärmelkanal auf den Kontinent zu retten bleibt nur eins: Die Wiesbadener müssen nun auch David Hares Trilogie inszenieren. Dann bleibt jedem Zuschauer die Möglichkeiten, die Argumente zu wägen und selbst zu entscheiden.

Der Rest ist …?

Nein, keineswegs Schweigen. Einmal wird die Frage aufgeworfen: „Warum sollte jemand jemand anderem gehorchen?“ – Ja, warum eigentlich? 

P.S.

Die Uraufführung 2002 in London war besser – das ist kein Wunder: das Staatstheater in Wiesbaden ist eine mittlere deutsche Bühne, das Royal National Theatre in London das Flaggschiff englischsprachiger Schauspiele. Das Ensemble ist leistungsfähiger und Henriette Hörnigk, Regisseurin in Wiesbaden, kann sich nicht mit Trevor Nunn (LondonNewYork) messen, dessen Ruhm bis zum Himmel reicht. Aber es liegt auch an der Sprache: Wolf Christian Schröders Übersetzung, so trefflich  sie ist, reicht nicht ans englische Original heran. Englisch ist zupackender, kürzer, bündiger, hat mehr Biss als unser umständlicheres Deutsch, und Stoppard nutzt es, um bis zum Aphorismus zu verkürzen, Pointen zu schleifen, zuzuspitzen.

Aber Londoner Glanz verkürzt das Verdienst der Wiesbadener um keinen Deut.