Bilanz ziehen

Seinen neuen Roman „Lessons“ hätte Ian McEwan  auch „Lessons unlearned“ nennen können

Ian McEwan schildert in seinem neuen Roman „Lessons“ das Leben   Rolands, eines Zeitgenossen, mit Vorfahren und Nachkommen – ein Brite, ein Engländer (autobiographische Züge sind schwer übersehbar).  Rolands Intelligenzquotient liegt weit über dem Durchschnitt- und er erlebt Dinge, die den Roman, um das mindeste zu sagen, lesenswert machen:

Foto: Annalena McAfee

Roland ist hochmusikalisch. Der Junge lernt Klavier, lernt wahnsinnig schnell. Die Lehrer erkennen und fördern sein Talent – er bekommt von einer jungen Lehrerin Extrastunden – und die berührt den 11jährigen. Das vergisst er nicht und besucht sie, als seine Erektionsfähigkeit sich ausgeprägt hat. Ian McEwan weiß, wie man Sexszenen beschreibt – und diese lassen einem die Haare zu Berge stehen angesichts des Widerspruchs, dass Erwachsene Jugendliche in Ruhe zu lassen haben einerseits und der Extasen, die die beiden durchleben andererseits.

Ein zweiter Höhepunkt ist die Ehe, die Roland eingeht – das Buch beginnt mit der Trennung der beiden. Die junge Frau verlässt Roland und ihr Baby, weil sie in sich ein großes literarisches Talent spürt (schon wieder eine autobiographische Anspielung?)  und, um es zu entbinden, sich frei machen will&muss von den Fesseln der Familie und Mutterschaft. Natürlich ist McEwan ein Mann, eigene Erfahrungen fließen ein, wie bei jedem Buch, jedem Autor, aber sie werden auch verfremdet. Leseerfahrungen spielen ebenfalls eine große Rolle, bei intertextuellen Andeutungen wird Thomas Mann erwähnt. Ähnlich wie die Buddenbrooks sind auch die Lessons ein Buch über Auf- und Abstieg einer Familie. Rolands Vater kommt aus kleinen Verhältnissen, er arbeitet sich im Zweiten Weltkrieg vom Mannschafts- in den Offiziersstand hinauf –   bringt es  sogar bis zum Major. Wichtig für Roland, zumal ihm der Vater nicht nur eine gute (Internats)Erziehung finanzieren kann, sondern auch sein musikalisches Talent vererbt.

Was zur Frage führt, was Familie, was Kinder bedeuten, was Talent, was künstlerischer Erfolg. Das alles wird beschrieben, gemessen, verglichen und dem Leser vorgelegt, damit er selbst sein Urteil fällen kann. Die überragende Fähigkeit McEwans ist die Konstruktion der Fabel, die er über fast fünfhundert Seiten entfaltet; sein Talent, Figuren zu konturieren, sie in die privaten Verhältnisse wie die geschichtliche Entwicklung (Großbritanniens, Europas, der Welt) einzubetten; Landschaften zu schildern;  Jahreszeiten – FrühlingSommerHerbst&Winter – und Stimmungen zueinander in Beziehung zu setzen bis zum Streifen des Lyrischen stehen dem kaum nach. Das Motto entlehnt McEwan James Joyce, darunter macht er es nicht. Noblesse oblige.  – Aber ich bleibe dabei: Die Konstruktion der Fabel, die auch den Geschichtspessimismus grundiert, der den Roman wie ein Generalbass begleitet, beweist McEwans Meisterschaft am überzeugendsten: einmal das Alter, Zerfall, Tod, andererseits der Abstieg von den hochfliegenden Träumen nach dem Fall der Mauer bis zum jetzigen Krieg, dem Ende dieser Hoffnungen: die Konstruktion der komplexen Fabel ist McEwans Stärke. Ein großartiges Buch, das ältere Leser wie mich einladen, Bilanz zu ziehen, so wie es McEwan ganz offensichtlich für sich getan hat, tut – eine Bilanz, die angesichts der eigenen Ohnmacht fragwürdig ausfällt.

Bei aller Problematik ist das Buch auch  ein großes Lesevergnügen. Am besten ist der Sex (den McEwan gern mit Mozart in Verbindung bringt, der ja auch kein Kind von Traurigkeit gewesen sein soll.)

                                                                                            Ulrich Fischer

P.S. Ich habe mäßige Englischkenntnisse und konnte den Roman gut auf Englisch lesen, ohne allzu oft das Wörterbuch zu Rate ziehen zu müssen.

Ian McEwan: Lessons. Roman.  Jonathan Cape, London  2022. 486 Seiten, 20 £ – auf Deutsch „Lektionen“ bei Diogenes erschienen, 720 S., 32.00 €